»Ist Ihnen aufgefallen, ob er am kleinen Finger einen Ring getragen hat? Mit einem roten Stein?«
»Ja! Wie ein Rubin! Nur zu groß, um echt zu sein. Und eine braune Mütze …«
Neal nickte eifrig. »Mit weißen Flecken. Dieses verdammte Ding trägt er seit zehn Jahren. Der Kerl, von dem Sie reden, ist unter dem Spitznamen Big Driver bekannt. Ich weiß nicht genau, wo er wohnt, aber er ist von hier, aus Colewich oder Nestor Falls. Ich sehe ihn manchmal - Supermarkt, Baumarkt, Wal-Mart, in solchen Läden. Und wer ihn einmal gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr. Sein richtiger Name ist Al Irgendwas-Polnisches. Sie wissen schon, einer dieser Zungenbrecher. Strelkowicz, Stancowitz, irgendwas in dieser Art. Ich wette, dass ich ihn im Telefonbuch finden könnte, seinem Bruder und ihm gehört nämlich ein Fuhrunternehmen. Es heißt Hawkline, glaube ich. Oder vielleicht auch Eagle Line. Jedenfalls irgendwas mit einem Vogel. Soll ich versuchen, ihn zu finden?«
»Nein danke«, sagte Tess freundlich. »Sie haben mir sehr geholfen, und mein Taxifahrer wartet.«
»Okay. Tun Sie sich nur selbst einen Gefallen, und meiden Sie in Zukunft Ihren Freund. Und meiden Sie das Stagger Inn! Aber wenn Sie jemandem erzählen, dass ich das gesagt habe, muss ich Sie natürlich aufspüren und umlegen.«
»Das wäre nur fair«, sagte Tess lächelnd. »Ich hätte es verdient.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Tun Sie mir einen Gefallen?«
»Wenn ich kann.«
»Sollten Sie Al Irgendwas-Polnisches in der Stadt begegnen, erwähnen Sie bitte nicht, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Sie lächelte breiter. Das tat zwar ihren geschwollenen
»Kein Problem.«
Tess hielt noch einen Augenblick länger inne. »Ich mag Ihre Augen.«
Neal zuckte mit den Achseln. »Was angeborene Defekte betrifft, ist das ein guter. Als Kind bin ich oft damit aufgezogen worden, aber jetzt …«
»Jetzt ist er ein Vorteil für Sie«, sagte Tess. »Sie sind in ihn hineingewachsen.«
»Das stimmt wohl. Als ich Anfang zwanzig war, habe ich gelegentlich sogar als Model gearbeitet. Aber wissen Sie was? Manchmal ist es besser, aus etwas herauszuwachsen. Zum Beispiel seinen Geschmack für gewalttätige Männer zu überwinden.«
Dazu gab es eigentlich nichts weiter zu sagen.
26
Tess überzeugte sich davon, dass der Motor ihres Expedition ansprang, dann gab sie dem Taxifahrer zwanzig statt zehn Dollar Trinkgeld. Er bedankte sich und fuhr in Richtung I-84 davon. Sie folgte ihm, aber nicht bevor sie Toms Kabel wieder in die Buchse des Zigarettenanzünders gesteckt und ihn eingeschaltet hatte.
»Hallo, Tess«, sagte Tom. »Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
»Nur nach Hause, Tommy-Boy«, sagte sie, verließ den Parkplatz und war sich sehr bewusst, dass sie auf einem Vorderreifen fuhr, den ein Mann montiert hatte, der sie fast umgebracht hatte. Al Irgendwas-Polnisches. Ein Lastwagen fahrender Hundesohn. »Mit einem Zwischenstopp.«
»Ich weiß nicht, was du denkst, Tess, aber du solltest vorsichtig sein.«
Wäre sie statt in ihrem Wagen zu Hause gewesen, und hätte Fritzy das gesagt, wäre sie genauso wenig überrascht gewesen. Stimmen und Gespräche hatte sie schon seit ihrer Kindheit erfunden, aber mit acht oder neun Jahren aufgehört, das in Gegenwart anderer Leute zu tun, außer um einen komischen Effekt zu erzielen.
»Ich weiß auch nicht, was ich denke …«, sagte sie, obwohl das nicht ganz stimmte.
Vor ihnen lagen die Kreuzung Stagg Road und US 47 mit dem Gas & Dash. Sie setzte den Blinker, bog ab und parkte den Expedition genau mittig vor den beiden Kartentelefonen. An der Hohlblocksteinwand sah sie die in den Staub geschriebene Telefonnummer von Royal Limousine. Die Ziffern waren krumm und schief, von einem Finger geschrieben, der nicht hatte still halten können. Bei diesem Anblick lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und drückte fest zu. Dann stieg sie aus und ging zu dem Kartentelefon, das noch funktionierte.
Die Gebrauchsanweisung war zerkratzt, vielleicht von einem Betrunkenen mit einem Autoschlüssel, aber die wichtigen Informationen waren noch lesbar: Anrufe bei der Notrufnummer waren kostenlos, man brauchte nur den Hörer abzunehmen und die Nummer einzutippen. Kinderleicht.
Sie tippte die 9 ein, zögerte, tippte die 1, zögerte dann erneut. Sie stellte sich eine Piñata und eine Frau vor, die sie mit einem Stock herunterschlagen wollte. Bald würde ihr gesamter Inhalt herausstürzen. Ihre Eltern würden wissen, dass ihre einzige Tochter vergewaltigt worden war. Patsy McClain würde wissen, dass die Geschichte, sie sei über Fritzy gestolpert, eine aus Scham geborene Lüge gewesen war … und das Tess ihr nicht genug vertraut hatte, um ihr
Nur …
»Was bringt mir das?« Sie sprach ziemlich leise, während sie die Telefonnummer betrachtete, die sie in den Staub geschrieben hatte. »Was ist für mich drin?«
Und sie dachte: Ich habe eine Waffe. Ich habe einen Revolver und weiß, wie man ihn gebraucht.
Tess hängte den Hörer ein und ging zu ihrem Wagen zurück. Sie sah auf Toms Bildschirm, der die Kreuzung Stagg Road und US 47 zeigte. »Ich muss noch etwas länger darüber nachdenken«, sagte sie.
»Was gibt’s da zu überlegen?«, fragte Tom. »Wenn du ihn umlegst und dann geschnappt wirst, sperren sie dich ein. Ob vergewaltigt oder nicht.«
»Genau darüber muss ich nachdenken«, sagte sie und bog auf die US 47 ab, die sie zur I-84 bringen würde.
Wie immer am Samstagmorgen war der Verkehr auf der Interstate schwach, und am Steuer ihres Expedition zu sitzen fühlte sich gut an. Beruhigend. Normal. Tom schwieg, bis sie an dem Schild AUSFAHRT 9 STOKE VILLAGE 2 MEILEN vorbeifuhren. Dann sagte er: »Weißt du bestimmt, dass das nur Zufall war?«
»Was?« Tess zuckte überrascht zusammen. Sie hatte Toms Stimme aus dem eigenen Mund kommen hören: in der tieferen Gedanke zu sein. »Soll das heißen, dass der Scheißkerl mich versehentlich vergewaltigt hat?«
»Nein«, antwortete Tom. »Ich sage nur, dass du dieselbe Strecke zurückgefahren wärst, wenn es nach dir gegangen wäre. Diese Strecke. Die I-84. Aber irgendwer hatte eine bessere Idee, stimmts? Irgendjemand hat eine Abkürzung gewusst.«
»Ja«, bestätigte sie. »Ramona Norville hat eine gewusst.« Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist ziemlich weit hergeholt, mein Freund.«
Dazu äußerte Tom sich nicht.
27
Bei der Abfahrt vom Gas & Dash hatte sie vorgehabt, online zu gehen und zu sehen, ob sie ein Fuhrunternehmen, vielleicht eine selbstständige kleine Firma, finden konnte, das seinen Sitz in Colewich oder einer der umliegenden Kleinstädte hatte. Eine Firma mit einem Vogelnamen, vielleicht Hawk oder Eagle. Das hätten die Willow-Grove-Ladys getan; sie liebten ihre Computer und schrieben sich wie Teenager dauernd E-Mails. Abgesehen von anderen Erwägungen wäre es interessant, zu sehen, ob ihre Version von amateurhafter Detektivarbeit im richtigen Leben funktionierte.
Als sie die eineinhalb Meilen von ihrem Haus entfernte Ausfahrt 9 nahm, beschloss sie, erst ein bisschen über Ramona Norville in Erfahrung zu bringen. Wer weiß, vielleicht männliche Lesbe, und so veranlagte Frauen hatten oft nicht einmal etwas für Männer übrig, die keine Vergewaltiger waren.
»Viele Brandstifter gehören der örtlichen freiwilligen Feuerwehr an«, bemerkte Tom, als sie auf ihre Straße abbog.
»Was soll denn das wieder heißen?«, fragte Tess.