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»Dass du niemanden nach seinen augenscheinlichen Zugehörigkeiten beurteilen solltest. Das würden die Ladys des Strickclubs nie tun. Aber ihren Lebenslauf solltest du dir unbedingt ansehen.« Tom sprach in einem leicht gönnerhaften Ton, den Tess nicht erwartet hatte und der sie leicht irritierte.

»Wie liebenswürdig von dir, mir das zu erlauben, Thomas«, sagte sie.

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Aber als sie in ihrem Arbeitszimmer vor dem hochgefahrenen Computer saß, starrte sie nur fünf Minuten lang den Begrüßungsbildschirm von Apple an und fragte sich, ob sie wirklich vorhatte, den Riesen aufzuspüren und ihren Revolver zu gebrauchen - oder ob das Ganze nur die Art Phantasie war, auf die berufsmäßige Lügner wie sie selbst nur allzu leicht hereinfielen. In diesem Fall eine Rachephantasie. Auch derartige Filme mied sie, obwohl sie natürlich wusste, dass es solche gab; wenn man nicht als völliger Einsiedler lebte, konnte man sich gegen den Puls der Gegenwartskultur nicht völlig abschotten. In den Rachefilmen machten bewundernswürdig muskulöse Männer wie Die mutige Frau? Jedenfalls irgendwas in dieser Art.

Ihr Computer wechselte zum Bildschirmschoner mit dem Wort des Tages über. Das heutige Wort war Kormoran, ganz zufällig ein Vogel.

»Wenn Sie Ihre Waren mit Cormorant Trucking versenden, fliegen sie förmlich«, sagte Tess mit ihrer tiefen Stimme, die Tom gehören sollte. Dann drückte sie eine Taste, und der Bildschirmschoner verschwand. Sie ging online, aber zu keiner Suchmaschine, zumindest nicht gleich zu Anfang. Als Erstes rief sie YouTube auf und tippte RICHARD WIDMARK ein, ohne irgendeine Idee zu haben, weshalb sie das tat. Jedenfalls keine bewusste.

Vielleicht will ich rauskriegen, ob der Kerl es wirklich wert ist, Fans zu haben, dachte sie. Nach Ramonas Meinung eindeutig.

Es gab jede Menge Filmchen. Am besten bewertet war eine sechsminütige Zusammenstellung mit dem Titel ER IST BÖSE, ER IST ECHT BÖSE. Mehrere Hunderttausend Leute hatten sie sich schon angesehen. Sie enthielt kurze Szenen aus drei Filmen, aber wirklich fasziniert war Tess von der ersten. Sie war schwarz-weiß und wirkte fast billig … aber sie stammte eindeutig aus einem dieser Filme. Das besagte schon der Titeclass="underline" Der Todeskuss.

Tess sah sich das ganze Video an und kehrte dann noch zweimal zu dem Todeskuss-Segment zurück. Widmark spielte einen kichernden Gangster, der eine alte Frau in einem Rollstuhl bedroht. Er verlangt Informationen. »Wo ist Ihr

Die alte Lady schoss er jedoch nicht in den Bauch. Er fesselte sie mit einer Lampenschnur an ihren Rollstuhl und stieß sie die Treppe hinunter.

Tess verließ YouTube, bingte nach Richard Widmark und fand, was sie angesichts dieses kraftvollen Filmausschnitts erwartet hatte: Obwohl er in zahlreichen weiteren Filmen mitgespielt hatte, zunehmend in der Rolle des Helden, war er am besten als der kichernde, psychotische Tommy Udo aus Der Todeskuss bekannt.

»Na und?«, sagte Tess. »Manchmal ist eine Zigarre bloß eine Zigarre.«

»Was soll das heißen?«, fragte Fritzy von der Fensterbank her, auf der er sich sonnte.

»Das soll heißen, dass Ramona sich vermutlich in ihn verknallt hat, als sie ihn als heldenhaften Sheriff oder tapferen Schlachtschiffkommandanten oder irgendwas in dieser Art gesehen hat.«

»So muss es gewesen sein«, stimmte Fritzy zu. »Wenn du nämlich recht hast, was ihre sexuelle Orientierung betrifft, dann himmelt sie wahrscheinlich keine Männer an, die alte Ladys in Rollstühlen ermorden.«

Das stimmte natürlich. Klug gedacht, Fritzy.

Die Katze musterte Tess mit skeptischem Blick, dann sagte sie: »Aber vielleicht hast du damit nicht recht.«

»Auch wenn’s anders wäre«, sagte Tess, »kann niemand sich für verrückte böse Kerle begeistern.«

Wie dämlich diese Behauptung war, erkannte sie, sobald sie ausgesprochen war. Wenn die Leute sich nicht für Psychos begeistern könnten, würden nicht ständig Filme über den Verrückten in der Hockeymaske und das Verbrennungsopfer

»Lieber nicht«, sagte Tess. »Solltest du versucht sein, denk daran, wer deinen Fressnapf füllt.«

Sie googelte nach Ramona Norville, erzielte fast 44 000 Treffer, fügte Chicopee hinzu und bekam dann realistischere zwölfhundert (obwohl auch die meisten davon, das wusste sie, zufälliger Dreck sein würden). Der erste relevante stammte aus der Wochenzeitung Chicopee Weekly Reminder und betraf Tess selbst: BIBLIOTHEKARIN RAMONA NORVILLE KÜNDIGT »WILLOW-GROVE-FREITAG« AN.

»Das bin ich, die große Zugnummer«, murmelte Tess. »Ein Hoch auf Tessa Jean. Mal sehen, wie die Schauspielerin in der Nebenrolle aussieht.« Als sie die Meldung aufrief, sah sie jedoch nur ein Foto von sich selbst: die PR-Aufnahme mit dem schulterfreien Kleid, die ihre Teilzeit-Assistentin routinemäßig verschickte. Sie rümpfte die Nase und rief noch einmal Google auf; sie hätte nicht sagen können, wieso sie sich Ramona erneut ansehen wollte, sondern wusste nur, dass sie das wollte. Als sie endlich ein Foto der Bibliothekarin fand, sah sie, was ihr Unterbewusstsein anscheinend schon vermutet hatte - zumindest nach Toms Kommentaren auf der Heimfahrt zu schließen.

Das Bild gehörte zu einer Meldung im Weekly Reminder vom 3. August. BROWN BAGGERS STELLEN REDNER DES HERBSTPROGRAMMS VOR, lautete die Schlagzeile. Darunter stand Ramona Norville auf den Stufen vor der Bibliothek und blinzelte lächelnd in die Sonne. Ein schlechtes Foto, das ein Hobbyfotograf ohne viel Talent gemacht hatte, und eine schlechte (aber vermutlich typische) Wahl, was Norvilles Kleidung betraf. Der männlich geschnittene Blazer ließ sie so breitschultrig wie einen Footballverteidiger erscheinen. Ihre Schuhe waren hässliche braune

»Heiliger gottverdammter Scheiß, Fritzy«, sagte sie. Ihre Stimme troff vor Entsetzen. »Sieh dir das an!« Fritzy kam nicht herüber, um es sich anzusehen, und gab auch keine Antwort - wie denn auch, wo sie doch zu entsetzt war, um seine Stimme zu imitieren?

Überzeug dich davon, was du siehst, ermahnte sie sich. Du hast einen schrecklichen Schock erlitten, Tessa Jean, vielleicht den schlimmsten, den eine Frau außer einer tödlichen Diagnose in einem Sprechzimmer erleben kann. Also vergewissere dich.

Sie schloss die Augen und rief sich den Mann aus dem alten Ford F-150 mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer herum ins Gedächtnis zurück. Anfangs hatte er so freundlich gewirkt. Sie haben nicht erwartet, hier draußen in der Pampa dem Jolly Green Giant zu begegnen, was?

Nur war er nicht grün gewesen; er war ein sonnengebräunter hünenhafter Mann gewesen, der seinen Pick-up nicht fuhr, sondern anhatte.

Ramona Norville, kein Big Driver, aber offensichtlich eine Große Bibliothekarin, war zu alt, um seine Schwester zu sein. Und auch wenn sie jetzt eine Lesbe war, war sie das nicht schon immer gewesen, denn die Ähnlichkeit war unverkennbar.

Wenn ich mich nicht gewaltig täusche, habe ich ein Foto der Mutter meines Vergewaltigers vor mir.

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Sie ging in die Küche und trank etwas Wasser, aber Wasser genügte diesmal nicht. Ganz hinten in ihrem Kühlschrank lag seit undenklichen Zeiten eine halbvolle Flasche Tequila. Tess holte sie heraus, überlegte, ob sie ein Glas brauchte, und nahm dann einen kleinen Schluck aus der Flasche. Das Zeug brannte in Mund und Kehle, wirkte sich sonst jedoch positiv aus. Sie trank noch einen Schluck - diesmal einen etwas größeren -, dann legte sie die Flasche zurück. Sie hatte nicht die Absicht, sich zu betrinken. Wenn sie jemals einen klaren Kopf gebraucht hatte, dann heute.

Wut - der größte, tiefste Zorn ihres Erwachsenenlebens - hatte wie ein Fieber von ihr Besitz ergriffen. Aber es war kein Fieber wie alle anderen, die sie bisher kennengelernt hatte. Es kreiste wie ein unheimliches Serum in ihrem Körper: in der rechten Hälfte kalt, dann links, wo ihr Herz saß, heiß. Aber es schien nicht in die Nähe ihres Kopfs zu kommen, der klar blieb. Er war sogar klarer, seit sie den Tequila getrunken hatte.