Sie ging mehrmals hastig im Kreis herum durch die Küche - den Kopf gesenkt, während sie sich mit einer Hand die Würgemale am Hals massierte. Ihr war nicht bewusst, dass sie auf die gleiche Weise durch ihre Küche lief, wie sie den verlassenen Laden umkreist hatte, nachdem sie aus der Wellblechröhre gekrochen war, die Big Driver zu ihrem Grab bestimmt hatte. Glaubte sie wirklich, dass Ramona Norville sie, Tess, ihrem psychotischen Sohn wie eine Art Opferlamm zugetrieben hatte? War das wahrscheinlich? Das war es nicht. Konnte sie auf der Basis eines schlechten Fotos und der eigenen Erinnerung auch nur annehmen, dass die beiden Mutter und Sohn waren?
Aber mein Gedächtnis ist gut. Vor allem mein Gedächtnis für Gesichter.
Nun, das glaubte sie zumindest, aber das tat vermutlich jeder. Richtig?
Ja, und die ganze Idee ist verrückt. Das musst du zugeben.
Das gab sie zu, aber in Fernsehsendungen über wahre Verbrechen (die sie sich häufig ansah) hatte sie schon verrücktere Dinge gesehen. Die Besitzerinnen eines Mietshauses in San Francisco, die jahrelang ältere Mieter ermordet und im Garten verscharrt hatten, um deren Rentenschecks zu kassieren. Den Flugkapitän, der seine Frau umgebracht und die Leiche dann tiefgekühlt hatte, um sie durch den Häcksler schieben zu können. Den Mann, der seine Kinder mit Benzin übergossen und wie Moorhühner aus Cornwall gegrillt hatte, damit seine Frau das ihr gerichtlich zugesprochene Sorgerecht niemals würde ausüben können. Eine Frau, die dem eigenen Sohn Opferlämmer zutrieb, war schockierend und unwahrscheinlich … aber nicht unmöglich. Was die verbrecherisch dunkle Seite des menschlichen Herzens betraf, schien es keine Grenze zu geben.
»O Mann«, hörte sie sich mit einer Stimme sagen, die eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung war. »O Mann, o Mann, o Mann.«
Finde es heraus. Verschaff dir Gewissheit. Wenn du kannst.
Tess setzte sich wieder an den Computer. Die Hände zitterten ihr so sehr, dass sie drei Anläufe brauchte, um COLEWICH FUHRUNTERNEHMEN ins Suchfeld der Google-Seite zu tippen. Nachdem sie es richtig hinbekommen hatte, drückte sie die Eingabetaste und sah sofort den gesuchten Namen ganz oben auf der Liste: RED HAWK TRUCKING. Als sie den Eintrag anklickte, gelangte sie zur Homepage von Red Hawk, auf der ein ruckelnd gezeichneter Sattelschlepper mit etwas, das wohl ein Habicht sein sollte, auf der Seite und einem bizarren Fahrer mit
Wer mehr als die Begrüßungsseite sehen wollte, hatte die Wahl zwischen vier, fünf Möglichkeiten, darunter Kontaktadresse, Frachttarife und Empfehlungen von zufriedenen Kunden. Tess übersprang sie und klickte auf die letzte, die SEHEN SIE SICH DIE NEUESTE ERGÄNZUNG UN-SERER FLOTTE AN! lautete. Und als das Foto erschien, fiel das letzte Stück des Puzzles an seinen Platz.
Die Aufnahme war viel besser als die andere, die Ramona Norville auf der Treppe vor der Bibliothek zeigte. Auf diesem Foto saß Tess’ Vergewaltiger am Steuer eines auf Hochglanz polierten Frontlenkers, eines Sattelschleppers der Marke Peterbilt, auf dessen Tür in verschnörkelter Zierschrift RED HAWK TRUCKING COLEWICH, MASSACHUSETTS stand. Diesmal trug er seine braune Mütze mit den Bleichmittelflecken nicht, und der auf diese Weise sichtbare blonde Bürstenhaarschnitt machte ihn seiner Mutter auf fast unheimliche Weise noch ähnlicher. Sein fröhliches Mir-können-Sie-vertrauen-Grinsen kannte Tess von gestern Nachmittag nur allzu gut. Er hatte es noch zur Schau getragen, als er gefragt hatte: Wie wär’s, wenn ich dich ficken würde, statt deinen Reifen zu wechseln? Wie wäre das?
Der Anblick des Fotos bewirkte, dass das unheimliche Wutserum rascher durch ihren Organismus kreiste. In ihren Schläfen pochte etwas, das eigentlich kein Kopfschmerz war; eigentlich war es sogar angenehm.
Er trug einen roten Glasring.
Die Bildunterschrift lautete: »Al Strehlke, Präsident von Red Hawk Trucking, am Steuer des neuesten Fahrzeugs der
Sie hörte, wie er sie eine Schlampe nannte, eine weinerliche Hurenschlampe, und ballte die Hände zu Fäusten. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen, drückte noch fester zu, genoss den Schmerz.
Stolzer Papa. Dorthin kehrte ihr Blick immer wieder zurück. Stolzer Papa. Der Zorn pulsierte schneller und immer schneller, kreiste durch ihren Körper, wie sie im Kreis durch die Küche gelaufen war. Wie sie letzte Nacht den verlassenen Laden umkreist hatte: mal bei Bewusstsein, mal weggetreten - einer Schauspielerin gleich, die sich durch die Lichtkreise von Punktscheinwerfern bewegte.
Dafür wirst du bezahlen, Al. Und die Cops lassen wir außen vor; ich komme selbst kassieren.
Und dann gab es noch Ramona Norville. Die stolze Mama des stolzen Papas. Obwohl Tess sich in Bezug auf sie noch nicht ganz sicher war. Teils weil sie nicht glauben wollte, dass eine Frau zulassen könnte, dass einer anderen Frau etwas so Schreckliches zustieß, aber auch weil eine harmlose Erklärung denkbar war. Chicopee war nicht allzu weit von Colewich entfernt, und Ramona würde die Stagg Road ständig als Abkürzung benutzen, wenn sie dorthin fuhr.
»Um ihren Sohn zu besuchen«, sagte Tess und nickte. »Um den stolzen Papa mit dem neuen Peterbilt-Frontlenker zu besuchen. Vielleicht hat sie sogar die Aufnahme von ihm am Steuer gemacht.« Und wieso sollte sie der Gastautorin nicht ihre Lieblingsroute empfehlen?
Aber warum hatte sie nicht gesagt: »Diese Strecke fahre ich oft, um meinen Sohn zu besuchen«? Wäre das nicht irgendwie selbstverständlich gewesen?
»Vielleicht spricht sie über die Strehlke-Phase ihres Lebens nicht mit Fremden«, sagte Tess. »Die Phase, bevor sie kurze Haare und bequeme Schuhe entdeckt hat.« Das war möglich, aber es gab auch die mit Nägeln gespickten verstreuten Bretter zu bedenken. Die Falle. Norville hatte sie dorthin geschickt, und die Falle war rechtzeitig aufgestellt worden. Weil sie ihn angerufen hatte? Weil sie angerufen und gesagt hatte: Ich schicke dir eine Leckere, verpass sie nicht?
Das heißt noch immer nicht, dass sie beteiligt war … wissentlich beteiligt. Der stolze Papa kann verfolgt haben, wer bei ihr in der Bibliothek sprechen würde - wie schwierig wäre das?
»Gar nicht«, sagte Fritzy, nachdem er auf ihren Karteischrank gesprungen war. Er machte sich daran, eine Pfote zu putzen.
»Und wenn er ein Foto von einer gesehen hat, die ihm gefallen hat … eine halbwegs attraktive Frau … hat er wahrscheinlich gewusst, dass seine Mutter sie über die Stagg Road heimschicken …« Sie hielt inne. »Nein, so kann’s nicht gewesen sein. Wie hätte er ohne Input von seiner Mama gewusst, dass ich nicht nach Boston heimfahre? Oder nach New York zurückfliege?«
»Du hast nach ihm gegoogelt«, sagte Fritz. »Vielleicht hat er nach dir gegoogelt. Genau wie sie es getan hat. Heutzutage steht alles im Internet; das hast du selbst gesagt.«
Das hing logisch zusammen, wenn auch nur an einem hauchdünnen Faden.
Ihrer Ansicht nach gab es nur eine Möglichkeit, das zweifelsfrei festzustellen: durch einen Überraschungsbesuch bei Ms. Norville. Ihr in die Augen zu sehen, wenn sie Tess sah. Wenn in ihnen nichts als Überraschung und Neugier wegen der Rückkehr der Willow-Grove-Autorin - in Ramonas Heim statt in ihre Bibliothek - stand, war das eine Wieso bist du hier statt in einem rostigen Durchlass unter der Stagg Road ausgelöst haben konnte … nun, dann …
»Das wäre etwas anderes, Fritzy? Oder nicht?«
Fritzy betrachtete sie mit cleveren grünen Augen und putzte sich weiter die Pfote. Sie sah harmlos aus, diese Pfote, aber sie besaß verborgene Krallen. Tess hatte sie nicht nur gesehen, sondern manchmal auch gespürt.