Sie hat herausbekommen, wo ich wohne; mal sehen, ob ich mich revanchieren kann.
Tess wandte sich wieder ihrem Computer zu und suchte diesmal die Website der Books & Brown Baggers. Sie war sich sicher, dass sie eine finden würde - heutzutage hatte jeder eine Website, es gab zu »lebenslänglich« verurteilte Häftlinge, die eine Website hatten -, und wurde nicht enttäuscht. Die Brown Baggers stellten Buchbesprechungen, interessante Nachrichten über ihre Mitglieder und lockere Zusammenfassungen - nicht ganz Protokolle - ihrer Treffen ins Netz. Tess entschied sich für Letztere und begann zu scrollen. Sie brauchte nicht lange, um herauszubekommen, dass das Treffen am 10. Juni in Ramona Norvilles Haus in Brewster stattgefunden hatte. Tess war noch nie dort gewesen, aber sie wusste, wo diese Kleinstadt lag, und war erst gestern auf der Fahrt zu ihrem Gig an einem grünen Turnpike-Wegweiser mit der Aufschrift »Brewster« vorbeigefahren. Es lag nur zwei oder drei Ausfahrten südlich von Chicopee.
Als Nächstes rief sie die Steuerunterlagen der Brewster Township auf und scrollte nach unten, bis sie Ramonas Namen fand. Sie hatte im Vorjahr für ihr Grundstück 75 Lacemaker Lane eine Grundsteuer von 913,06 Dollar gezahlt.
»Hab dich, Schätzchen«, murmelte Tess.
»Du musst überlegen, wie du diese Sache anfangen willst«, sagte Fritzy. »Und wie weit du zu gehen bereit bist.«
»Wenn ich recht habe«, sagte Tess, »vielleicht ziemlich weit.«
Als sie den Computer herunterfahren wollte, fiel ihr noch etwas ein, das sich zu überprüfen lohnte, obwohl vermutlich nichts dabei herauskommen würde. Sie rief die Homepage des Weekly Reminder auf und klickte NACHRUFE an. Dort gab es ein Feld, in das man den Namen schreiben konnte, der einen interessierte, und Tess gab STREHLKE ein. Der einzige Treffer war ein gewisser Roscoe Strehlke. In dem Nachruf aus dem Jahr 1999 hieß es, er sei 48-jährig ganz plötzlich zu Hause verstorben. Die trauernden Hinterbliebenen waren seine Frau Ramona und zwei Söhne: Alvin (23) und Lester (17). Für eine Krimiautorin, selbst wenn sie nur unblutige Romane für alte Ladys schrieb, die man gern »Häkel-Krimis« nannte, war plötzlich verstorben eine rote Flagge. Sie durchsuchte die allgemeine Datenbank des Reminder, ohne jedoch mehr zu finden.
Sie blieb einen Augenblick sitzen und trommelte mit den Fingern auf ihre Sessellehne, wie sie das immer tat, wenn ihr bei der Arbeit ein Wort, ein Satz oder ein treffender Ausdruck fehlte. Dann suchte sie eine Aufstellung von Zeitungen im Westen und Süden von Massachusetts und fand den Springfield Republican. Als sie den Namen von Ramona Norvilles Ehemann eingab, war die dazugehörige Schlagzeile knapp und prägnant: GESCHÄFTSMANN AUS CHICOPEE VERÜBT SELBSTMORD.
Strehlke war in seiner Garage an einem Dachbalken hängend aufgefunden worden. Er hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, und Ramona wurde nicht zitiert, aber ein Nachbar sagte, Mr. Strehlke sei wegen »irgendwelcher Schwierigkeiten, die sein Ältester hatte«, sehr beunruhigt gewesen.
»Was für Schwierigkeiten hatte Al, die dir so zugesetzt haben?«, fragte Tess den Bildschirm. »Irgendwas mit einem Mädchen? Vielleicht Körperverletzung? Sexueller Missbrauch? Hat er sich schon damals auf Größeres vorbereitet? Wenn du dich deswegen aufgehängt hast, warst du als Vater eine schöne Niete.«
»Vielleicht hatte Roscoe Hilfe«, sagte Fritzy. »Von Ramona. Eine große, starke Frau, weißt du. Das müsstest du wissen; du hast sie gesehen.«
Auch das klang wieder nicht wie die Stimme, mit der sie im Prinzip Selbstgespräche führte. Sie starrte Fritzy verblüfft an. Fritzy erwiderte ihren Blick mit ruhigen grünen Augen, die zu fragen schienen: Wer, ich?
Was Tess tun wollte: mit ihrem Revolver in der Handtasche direkt zur Lacemaker Lane fahren. Was sie hätte tun sollen: das Detektivspielen bleibenlassen und die Polizei anrufen. Das hätte die Alte Tess getan, aber diese Frau war sie nicht mehr. Diese Frau erschien ihr jetzt wie eine entfernte Verwandte von der Sorte, der man zu Weihnachten eine Karte schickte, um sie dann wieder bis zum nächsten Mal zu vergessen.
Weil sie sich nicht entscheiden konnte - und sich wie zerschlagen fühlte -, ging sie wieder nach oben und legte sich ins Bett. Sie schlief vier Stunden lang und war beim Aufstehen so steif, dass sie kaum gehen konnte. Sie nahm zwei extrastarke Tylenol, wartete, bis sie zu wirken begannen, und fuhr dann zu Blockbuster Video. Den Smith & Wesson hatte sie in der Handtasche dabei. Sie glaubte, dass sie ihn in Zukunft immer bei sich haben würde, wenn sie allein unterwegs war.
Sie betrat den Videoverleih kurz vor Ladenschluss und fragte nach einem Jodie-Foster-Film mit dem Titel Die mutige Frau. Der Angestellte (der grünes Haar hatte, in einem Ohr eine Sicherheitsnadel trug und volle achtzehn Jahre alt Der Fremde in dir. Mr. Retro Punk ergänzte, für fünfzig Cent extra bekäme sie zu dem Film einen Beutel Mikrowellen-Popcorn dazu. Tess hätte fast Nein gesagt, überlegte sich die Sache dann aber anders. »Scheiße, warum nicht?«, sagte sie zu Mr. Retro Punk. »Man lebt nur einmal, stimmt’s?«
Er musterte sie verblüfft und schien sein Urteil über sie zu revidieren; dann lächelte er und bestätigte, in der Tat erhalte jeder Kunde nur ein Leben.
Zu Hause bereitete sie das Popcorn zu, legte die DVD ein, machte es sich auf der Couch bequem und stopfte sich ein Kissen in den Rücken, um die tiefe Kratzwunde abzupolstern. Fritzy leistete ihr Gesellschaft, und sie sahen sich gemeinsam an, wie Jodie Foster Jagd auf die Männer (auf die Kerle, wie in Scheißkerle) machte, die ihren Freund umgebracht hatten. Im Lauf der Handlung legte Foster alle möglichen Kerle um - alle mit einer Pistole. Der Fremde in dir gehörte eindeutig zu jenen Filmen, aber Tess genoss ihn trotzdem. Sie fand, dass er völlig schlüssig war. Sie glaubte auch, in all den Jahren etwas versäumt zu haben: die schwache, aber authentische Katharsis, die Filme wie Der Fremde in dir bewirkten. Als er zu Ende war, sagte sie zu Fritzy: »Ich wollte, Richard Widmark wäre Jodie Foster statt dieser alten Lady im Rollstuhl begegnet, findest du nicht auch?«
Fritzy stimmte tausendprozentig zu.
30
Als Tess an diesem Abend im Bett war, während der Oktoberwind immer stürmischer ums Haus heulte und Fritzy eng zusammengerollt neben ihr lag, traf sie eine Übereinkunft mit sich selbst: Wenn sie morgen früh in derselben Stimmung wie jetzt aufwachte, würde sie Ramona Norville aufsuchen und anschließend - je nachdem was sich in der Lacemaker Lane ergab - vielleicht Alvin »Big Driver« Strehlke einen Besuch abstatten. Eher würde sie allerdings wieder einigermaßen vernünftig aufwachen und die Polizei anrufen. Auch nicht anonym; sie würde die Suppe, die andere ihr eingebrockt hatten, auslöffeln. Eine Vergewaltigung nach über vierzig Stunden nachzuweisen würde vermutlich schwierig sein, aber die Spuren körperlicher Misshandlungen waren unverkennbar.
Und die Frauen in der Röhre: Sie war deren Advokatin, ob ihr das passte oder nicht.
Morgen werden dir alle diese Rachevorstellungen lächerlich vorkommen. Wie die Wahnideen, die Leute mit hohem Fieber haben.
Als sie am Sonntag aufwachte, war sie jedoch weiter voll im Neue-Tess-Modus. Sie starrte den Revolver auf dem Nachttisch an und dachte: Ich will ihn gebrauchen. Ich will diese Sache selbst erledigen, und wenn man bedenkt, was ich durchgemacht habe, hab ich es verdient, sie selbst zu erledigen.
»Aber ich muss mir sicher sein, und ich will natürlich nicht geschnappt werden«, sagte sie zu Fritzy, der aufgestanden war, sich umständlich streckte und sich auf einen weiteren anstrengenden Tag vorbereitete, an dem er herumliegen und häufig aus seinem Napf fressen würde.