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Tess duschte, zog sich an und setzte sich dann mit einem Notizblock auf die Glasveranda. Sie starrte den Rasen hinter

31

Gegen zehn Uhr war sie heißhungrig. Sie machte sich einen Riesenbrunch und aß ihn bis zum letzten Bissen auf. Dann brachte sie den Film zu Blockbuster zurück und fragte nach Der Todeskuss. Den hatten sie nicht, aber nach zehnminütiger Suche entschied sie sich für einen Ersatz, der Das letzte Haus links hieß. Sie nahm ihn mit nach Hause und sah ihn sich aufmerksam an. In dem Film vergewaltigten Männer ein junges Mädchen und ließen es als tot liegen. Das Ganze war ihrem eigenen Schicksal so ähnlich, dass Tess in Tränen ausbrach und so laut weinte, dass Fritzy aus dem Zimmer flüchtete. Aber sie hielt durch und wurde mit einem Happy End belohnt: Die Eltern des jungen Mädchens ermordeten die Vergewaltiger.

Sie steckte die DVD wieder in ihre Hülle und legte sie auf den Tisch in der Diele. Den Film würde sie morgen zurückbringen, wenn sie dann noch lebte. Das hatte sie zwar vor, aber nichts war gewiss; es gab viele seltsame Wendungen und Irrwege, während man den überwucherten Häschenpfad namens Leben hinunterhoppelte. Wie Tess aus leidvoller eigener Erfahrung wusste.

Weil sie noch Zeit totzuschlagen hatte - die Tageslichtstunden schienen quälend langsam zu vergehen -, surfte sie

»Aber vielleicht ist er schlimmer geworden«, erklärte sie Fritzy.

»Solche Kerle werden oft schlimmer«, stimmte Fritzy zu. (Das war ungewöhnlich; im Allgemeinen war eher Tom ihrer Meinung. Fritzys Rolle war meist die des Advocatus diaboli.)

»Einige Jahre später ist dann wieder etwas passiert. Etwas Schlimmeres. Vielleicht hat Mama ihm geholfen, es zu vertuschen …«

»Vergiss den jüngeren Bruder nicht«, sagte Fritzy. »Lester. Auch er kann darin verwickelt gewesen sein.«

»Verwirr mich nicht mit zu vielen Personen, Fritzy. Ich weiß nur, dass Al ›Big Driver‹, dieser Scheißkerl, mich vergewaltigt hat und dass seine Mutter als Komplizin infrage kommt. Das genügt mir.«

»Vielleicht ist Ramona ja auch seine Tante«, sagte Fritzy.

»Ach, halt die Klappe«, sagte Tess, und Fritzy gehorchte.

32

Sie legte sich um vier Uhr nachmittags hin und rechnete damit, keine Sekunde schlafen zu können, aber ihr heilender Körper setzte eigene Prioritäten. Sie war fast augenblicklich weg, und als sie von dem drängenden Dah-dah-dah ihres Radioweckers aufwachte, war sie froh, ihn gestellt zu haben. Draußen kämmte ein böiger Oktoberwind Blätter von den Bäumen und ließ sie in bunten Wolken über den Rasen wirbeln. Das Licht hatte die seltsame Goldfärbung ohne Tiefe angenommen, die eine exklusive Eigenschaft von Spätherbstnachmittagen in Neuengland zu sein schien.

Ihrer Nase ging es besser - dort waren die Schmerzen zu einem dumpfen Pochen abgeklungen -, aber ihr Hals tat noch immer weh, und sie humpelte eher ins Bad, als dass sie normal ging. Sie stellte sich unter die Dusche, drehte das Wasser so heiß auf, wie sie es aushalten konnte, und blieb in der Kabine, bis ihre Haut krebsrot und das Bad so neblig wie ein englisches Moor in einem Sherlock-Holmes-Roman war. Das Duschen hatte geholfen. Ein paar Tylenol aus dem Medizinschränkchen würden noch mehr bringen.

Sie frottierte sich die Haare, dann rieb sie den beschlagenen Spiegel ein Stück weit frei. Das Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit Augen, in denen Zorn und Vernunft glosten. Das Glas beschlug rasch wieder, blieb jedoch lange genug klar, um Tess zweifelsfrei erkennen zu lassen, dass sie diese Sache wirklich ohne Rücksicht auf Konsequenzen durchziehen wollte.

Zu dem schwarzen Rollkragenpullover zog sie eine schwarze Cargohose mit geräumigen aufgesetzten Taschen an. Dann fasste sie ihr Haar zu einem Knoten zusammen und stülpte eine große schwarze Baseballmütze darüber. Der Haarknoten beulte die Mütze hinten etwas aus, aber wenigstens würde kein potenzieller Zeuge sagen können: Ihr Gesicht hab ich nicht richtig erkannt, aber sie hatte langes blondes Haar. Es war hinten mit einem dieser Haargummis zusammengefasst. Sie wissen schon, die Dinger, die man bei J. C. Penney kriegt.

Sie ging in den Keller hinunter, in dem ihr Kajak seit Anfang September lagerte, und nahm die Rolle mit gelber Bootsleine aus dem Regal darüber. Mit der Heckenschere schnitt sie zwei Meter davon ab, wickelte die Leine über dem Unterarm auf und verstaute das Bündel dann in einer ihrer geräumigen Hosentaschen. Oben in der Küche steckte sie ihr Schweizer Messer in dieselbe Tasche - die linke. In die rechte Tasche kam der Smith & Wesson Kaliber.38 … und ein weiterer Gegenstand, den sie aus der Schublade neben dem Herd nahm. Dann füllte sie Fritzys Fressnapf mit einer doppelten Portion. Bevor sie ihn fressen ließ, drückte sie ihn jedoch erst noch an sich und küsste ihn oben auf den Kopf. Der alte Kater legte die Ohren an (wahrscheinlich mehr aus Überraschung als aus Widerwillen; sie war normalerweise kein küssendes Frauchen) und lief zu seinem Napf, sobald sie ihn absetzte.

»Teil dir das gut ein«, ermahnte Tess ihn. »Falls ich nicht zurückkomme, sieht zwar Patsy irgendwann nach dir, aber das kann ein paar Tage dauern.« Sie lächelte schwach und fügte hinzu: »Ich liebe dich, du klappriges altes Ding.«

Fritzy gab keine Antwort. Er war zu sehr mit Fressen beschäftigt.

Tess überflog noch einmal ihren NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel, überprüfte in Gedanken ihre Ausrüstung und rekapitulierte die Schritte, die sie unternehmen wollte, sobald sie die Lacemaker Lane erreichte. Vor allem würde sie darauf gefasst sein müssen, dass bei weitem nicht alles so ablief, wie erhofft. Bei solchen Sachen enthielt der Kartenstapel immer ein paar Joker. Ramona war vielleicht nicht zu Hause. Oder sie war da, hatte Besuch von ihrem Saw. Der jüngere Bruder - in Colewich bestimmt als Little Driver bekannt - konnte ebenfalls dort sein. Vielleicht war Ramona an diesem Abend Gastgeberin einer Tupperparty oder eines Literaturzirkels. Wichtig war vor allem, sich nicht durch unerwartete Ereignisse verwirren zu lassen. Wenn sie nicht entsprechend improvisieren konnte, hielt Tess es für sehr wahrscheinlich, dass sie ihr Haus in Stoke Village heute zum letzten Mal verlassen würde.

Sie verbrannte den NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel im Kamin, verteilte die Asche mit dem Schüreisen, zog dann ihre Lederjacke an und streifte dünne schwarze Lederhandschuhe über. Die Jacke hatte eine tiefe Innentasche. Tess steckte eines ihrer Küchenmesser hinein, nur als Rückversicherung, und ermahnte sich dann, nicht zu vergessen, dass es dort war. Das Letzte, was sie an diesem Wochenende brauchte, war eine versehentliche Brustamputation.

Kurz bevor sie aus der Haustür trat, schaltete sie die Alarmanlage ein.

Der Wind fiel sofort über sie her und ließ ihren Jackenkragen und die Beine der Cargohose flattern. Minizyklone wirbelten Laub auf. An dem nicht ganz dunklen Himmel über ihrem geschmackvollen kleinen Stück des vorstädtischen Connecticut zogen Wolken vor einem Dreiviertelmond vorbei. Eine wundervolle Nacht für einen Horrorfilm, fand Tess.

Sie stieg in den Expedition und knallte die Fahrertür zu. Ein Blatt fiel auf die Windschutzscheibe, wurde aber gleich wieder fortgeweht. »Ich habe den Verstand verloren«, sagte sie nüchtern. »Er ist rausgefallen und in der Wellblechröhre gestorben - oder als ich im Kreis um den Laden geirrt bin.

Sie ließ den Motor an. Tom das TomTom wurde hell und sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

»Richtig, mein Freund.« Tess beugte sich nach vorn und gab die Adresse 75 Lacemaker Lane, Brewster, in Toms aufgeräumtes elektronisches Gedächtnis ein.