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Sie hatte sich Ramonas Wohnviertel mit Google Earth angesehen, und als sie hinkam, sah dort alles unverändert aus. So weit, so gut. Brewster war eine Kleinstadt in Neuengland, die Lacemaker Lane lag am Ortsrand, und die Häuser standen auf großen Grundstücken. Tess fuhr mit gemächlichen kleinstädtischen zwanzig Meilen in der Stunde an der Nummer 75 vorbei und stellte fest, dass im Haus Licht brannte und in der Einfahrt nur ein Auto stand: ein fast neuer Subaru, der förmlich »Bibliothekarin« schrie. Nirgends eine Spur von einem Frontlenker-Pete oder einem anderen großen Sattelschlepper. Auch von keinem alten blauen Pick-up.
Die Straße endete an einer Wendefläche. Tess benutzte sie, kam zurück und bog in Norvilles Einfahrt ab, ohne sich eine Chance zu geben, es sich noch einmal anders zu überlegen. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und atmete lange und tief durch.
»Komm heil wieder, Tess«, sagte Tom von seinem Platz auf dem Instrumentenbrett aus. »Komm heil wieder, dann leite ich dich zu deinem nächsten Ziel.«
»Okay, ich tue mein Bestes.« Sie griff nach ihrem Notizblock (auf dem jetzt nichts mehr stand) und stieg aus. Den Notizblock hielt sie an ihre Jacke gedrückt, während sie zu
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Norvilles Haustür war auf beiden Seiten mit stark facettierten Glasstreifen eingefasst. Obwohl das dicke Glas den Blick verzerrte, konnte Tess eine hübsche Tapete und einen Flur mit Parkettboden erkennen. Auf einem Beistelltisch lag ein Stapel Zeitschriften. Vielleicht waren es auch Kataloge. Der Flur ging in einen großen Raum über, in dem ein Fernseher lief. Sie hörte singende Stimmen, also sah Ramona sich vermutlich nicht Saw an. Viel eher - wenn Tess recht hatte und der Song »Climb Ev’ry Mountain« hieß - sah sie sich Meine Lieder - meine Träume an.
Tess klingelte. Drinnen ertönte ein Dreifachgong, der die ersten drei Noten von »Dixie« zu spielen schien - eine für Neuengland seltsame Wahl, aber wenn Tess sie richtig beurteilte, war Ramona Norville ja auch eine seltsame Frau.
Sie hörte das Trampeln großer Füße und drehte sich halb zur Seite, damit das durchs Glas fallende Licht ihr Gesicht nur teilweise erhellte. Sie hielt den leeren Notizblock nun leicht schräg und machte mit einer behandschuhten Hand Schreibbewegungen. Dabei ließ sie die Schultern etwas hängen. Sie war eine Frau, die irgendeine Umfrage machte. Es war Sonntagabend, sie war müde, sie wollte nur noch die Lieblingszahncreme der Hausherrin erfragen (oder vielleicht ob sie Prince Albert in der Dose habe) und dann heimfahren.
Keine Sorge, Ramona, Sie können ruhig aufmachen, jeder kann sehen, dass ich harmlos bin, dass ich keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.
Aus den Augenwinkeln heraus sah sie hinter dem facettierten Glas ein verzerrtes Fischgesicht in ihr Blickfeld schwimmen. Dann folgte eine Pause, die ihr sehr lang erschien, bevor Ramona Norville die Haustür öffnete. »Ja? Was kann ich für Sie …«
Tess wandte sich ihr zu. Das durch die Tür fallende Licht beleuchtete ihr Gesicht. Und der Schock, den sie auf Norvilles Gesicht sah, dieser starke Schock, der ihr die Kinnlade herabsacken ließ, sagte ihr alles, was sie wissen musste.
»Sie? Was machen Sie h…«
Tess zog den Smith & Wesson Kaliber.38 aus der rechten Vordertasche. Auf der Fahrt von Stoke Village hierher hatte sie sich ausgemalt, wie er sich darin verhakte - hatte sich das mit albtraumhafter Klarheit vorgestellt -, aber der Revolver kam glatt heraus.
»Weg von der Tür! Wenn Sie sie zuzumachen versuchen, erschieße ich Sie.«
»Das werden Sie nicht«, sagte Norville. Sie trat nicht zurück, aber sie machte auch keine Anstalten, die Haustür zu schließen. »Sind Sie übergeschnappt?«
»Zurück!«
Norville trug einen weiten blauen Morgenmantel, und als Tess ihn vorn gewaltig anschwellen sah, hob sie den Revolver. »Beim ersten Laut schieße ich. Glauben Sie mir lieber, Sie Miststück, das ist mein voller Ernst.«
Norvilles üppiger Busen verlor schlagartig die Luft. Ihre Lippen waren von den Zähnen zurückgezogen, und die Augen irrlichterten von einer Seite zur anderen. So sah sie nicht wie eine Bibliothekarin aus, wirkte nicht jovial und herzlich. Tess fand eher, dass sie wie eine Ratte aussah, die außerhalb ihres Lochs überrascht worden war.
»Wenn Sie mit dem Ding schießen, hört das die ganze Nachbarschaft.«
Das bezweifelte Tess, aber sie widersprach nicht. »Ihnen kann das egal sein, weil Sie dann tot sind. Los, rein mit Ihnen! Wenn Sie sich zusammenreißen und meine Fragen beantworten, leben Sie morgen früh vielleicht noch.«
Norville wich zurück, und Tess, die den Revolver mit fast ausgestrecktem Arm hielt, trat in die Diele. Sowie sie die Haustür hinter sich schloss - was sie mit der Ferse tat -, blieb Norville neben dem Tischchen mit den Katalogen reglos stehen.
»Kein Grapschen, kein Werfen«, sagte Tess - und merkte an Ramonas zuckenden Mundwinkeln, dass die Frau genau das vorgehabt hatte. »Ich kann in Ihnen lesen wie in einem Buch. Weshalb wäre ich sonst hier? Los, weiter! Ganz bis ins Wohnzimmer zurück. Ich liebe die Trapp-Familie, wenn sie richtig rockt!«
»Sie sind verrückt«, sagte Ramona, aber sie setzte sich wieder in Bewegung. Sie trug Schuhe. Sogar zu ihrem Morgenmantel trug sie große hässliche Schuhe. Herrenschnürschuhe. »Ich habe keine Ahnung, was Sie hier wollen, aber …«
»Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Mama. Trauen Sie sich das bloß nicht. Alles hat auf Ihrem Gesicht gestanden, als Sie die Tür geöffnet haben. Restlos alles. Sie dachten, ich wär tot, was?«
»Ich weiß nicht, was Sie …«
»Wir Mädels sind hier unter uns, Schätzchen, warum nicht einfach alles zugeben?«
Jetzt waren sie im Wohnzimmer. An den Wänden hingen kitschige Ölbilder - Clowns, Waisen mit großen Augen -, und viele der Tische und Regale waren mit Kitsch vollgestellt: Schneekugeln, Trollbabys, Hummel-Figuren, Glücksbärchis, ein Pfefferkuchenhaus à la Hänsel und Gretel aus Porzellan. Obwohl Norville von Beruf Bibliothekarin war, waren nirgends Bücher zu sehen. Dem Fernseher gegenüber stand ein La-Z-Boy mit einem Lederkissen als Fußhocker. TV Guide. Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto, das Ramona und eine weitere Frau zeigte, die sich umarmten und dabei die Wangen aneinanderlegten. Es schien auf einem Jahrmarkt oder in einem Vergnügungspark gemacht worden zu sein. Vor diesem Foto stand eine gläserne Konfektschale, die unter der Deckenleuchte von innen heraus glitzerte.
»Wie lange machen Sie das schon?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Wie lange sind Sie schon Zuhälterin für den Vergewaltiger und Mörder, der Ihr Sohn ist?«
Norvilles Blick flackerte erneut, aber sie leugnete wieder … was Tess vor ein Problem stellte. Als sie hergekommen war, war ihr die Ermordung Ramona Norvilles nicht nur als Möglichkeit, sondern als wahrscheinlichstes Ende erschienen. Tess war sich ziemlich sicher gewesen, dass sie das hinbekam, dass die Bootsleine in der linken Vordertasche ihrer Cargohose unbenutzt bleiben würde. Nun stellte sie jedoch fest, dass sie nicht weitermachen konnte, bevor die Frau ihre Komplizenschaft gestand. Was auf deren Gesicht gestanden hatte, als sie Tess vor der Haustür hatte stehen sehen - grün und blau geschlagen, aber sonst sehr lebendig -, reichte nämlich nicht aus.
Nicht ganz.
»Wann hat es angefangen? Wie alt war er? Fünfzehn? Hat er behauptet, er hätte ›nur Spaß gemacht‹? Das behaupten anfangs viele von denen.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Sie kommen in die Bibliothek, liefern eine ganz annehmbare Lesung ab - etwas glanzlos, Sie waren offenbar nur wegen des Geldes da, aber damit war wenigstens die Lücke im Veranstaltungsplan ausgefüllt -, und als Nächstes stehen Sie vor meiner