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»Sparen Sie sich die Mühe, Ramona. Ich habe sein Foto auf der Website von Red Hawk gesehen. Mitsamt dem roten Ring. Er hat mich vergewaltigt und wollte mich umbringen. Er dachte, er hätte mich umgebracht. Und Sie haben mich zu ihm geschickt.«

Norvilles Mund öffnete sich in einer gruseligen Kombination aus Schock, Verzweiflung und Schuldgefühlen. »Nein, das stimmt nicht! Du blöde Fotze, du weißt nicht, wovon du redest!« Sie setzte sich wieder in Bewegung.

Tess hob den Revolver. »Ähäh, tun Sie das nicht. Nein.«

Norville machte halt, aber Tess glaubte nicht, dass die Frau lange stehen bleiben würde. Sie sammelte ihren Mut, um zu flüchten oder zu kämpfen. Und weil sie wusste, dass Tess sie verfolgen würde, wenn sie tiefer ins Haus flüchtete, würde sie wahrscheinlich kämpfen.

Die Trapp-Familie sang wieder. In der Situation, in der Tess sich befand - in die sie sich selbst gebracht hatte -, war all dieser fröhliche Choralscheiß unerträglich. Tess ließ den Smith & Wesson mit der rechten Hand auf Norville gerichtet, griff mit der linken nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. Als sie die Fernbedienung wieder hinlegen wollte, erstarrte sie. Auf dem Fernseher standen zwei Dinge, aber anfangs hatte sie nur das Foto von Ramona und ihrer Freundin richtig wahrgenommen; die Konfektschale hatte sie lediglich mit einem Blick gestreift.

Jetzt sah sie, dass das Glitzern, das sie dem Kristallglasschliff der Schale zugeschrieben hatte, nicht von außen kam. Es rührte von etwas her, das darin lag. In der Schale lagen ihre Ohrringe. Ihre Brillantohrringe.

Norville griff sich das Pfefferkuchenhaus aus dem Regal und warf es. Und zwar mit voller Kraft. Tess duckte sich, und das Pfefferkuchenhaus flog zwei Fingerbreit über ihren

Beide stürzten sich darauf. Norville ließ sich auf die Knie fallen und rammte ihre Schulter gegen Tess’ Arm und Schulter wie ein Footballverteidiger, der einen Quarterback umnieten wollte. Sie griff sich den Revolver, jonglierte erst noch damit und bekam ihn dann richtig zu fassen. Tess griff in ihre Jacke, umklammerte den Griff des Küchenmessers, das ihre Reservewaffe war, und wusste schon jetzt, dass sie damit nichts mehr würde ausrichten können. Norville war zu groß … und zu gluckenhaft. Ja, so war es! Sie hatte ihren verbrecherischen Sohn viele Jahre lang beschützt und war entschlossen, das auch jetzt zu tun. Tess hätte sie in der Diele erschießen sollen, sobald die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Aber ich konnte nicht, dachte sie, und selbst in diesem Augenblick war das Wissen, dass dies die Wahrheit war, ein kleiner Trost. Sie richtete sich Ramona Norville gegenüber auf den Knien auf.

»Sie sind eine beschissene Schreiberin, und Sie waren eine beschissene Rednerin«, sagte Norville. Sie lächelte und sprach immer schneller. Ihre Stimme hatte die näselnde Redeweise eines Versteigerers angenommen. »Sie haben Ihren Vortrag hingehauen, genau wie Sie Ihre dämlichen Bücher hinhauen. Sie waren perfekt für ihn, und er war kurz davor, wieder jemanden umzulegen, ich kenne die Anzeichen. Ich habe Sie zu ihm geschickt, und es hat geklappt, und ich bin froh, dass er Sie gefickt hat. Ich weiß nicht, was Sie sich erwartet haben, als Sie hier aufgekreuzt sind, aber jetzt müssen Sie mit dem hier vorliebnehmen.«

Norville drückte ab … und es war nichts als ein trockenes Klicken zu hören. Bei dem Schießunterricht, den Tess

Ein Ausdruck fast komischer Überraschung zog über Norvilles Gesicht. Er machte sie wieder jung. Während sie auf den Revolver in ihrer Hand hinunterstarrte, zog Tess das Messer aus der Jackeninnentasche, taumelte vorwärts und stieß es Norville bis zum Heft in den Bauch.

Die Frau ließ einen glasigen »OOO-OOOO«-Laut hören, der ein Schrei zu sein versuchte, es aber nicht schaffte. Tess’ Revolver fiel scheppernd zu Boden, und Ramona, die weiter auf den Messergriff hinabstarrte, torkelte rückwärts gegen die Wand. Mit dem fuchtelnden Arm traf sie eine Reihe von Hummel-Figuren. Sie kippten vom Regal und zerschellten auf dem Fußboden. Sie machte noch einmal diesen »OOO-OOOO«-Laut. Die Vorderseite des Morgenmantels war noch unbefleckt, aber unter dem Saum begann Blut auf Ramona Norvilles Männerschuhe zu platschen. Sie umklammerte den Messergriff mit beiden Händen und wollte die Klinge herausziehen, wobei sie zum dritten Mal den »OOO-OOOO«-Laut hören ließ.

Sie sah ungläubig zu Tess auf. Tess erwiderte den Blick. Sie musste an etwas denken, das sich an ihrem zehnten Geburtstag ereignet hatte. Ihr Vater hatte ihr eine Steinschleuder geschenkt, und sie war losgezogen, um Dinge zu suchen, auf die sie damit schießen konnte. Irgendwo, fünf oder sechs Straßen von ihrem Haus entfernt, hatte sie einen räudigen Straßenköter gesehen, der in einer Mülltonne wühlte. Sie hatte einen kleinen Stein in die Schleuder gelegt und auf den Hund geschossen, nur um ihn zu verscheuchen (hatte sie sich eingeredet), aber dann hatte sie ihn am Rumpf getroffen. Der Köter hatte jämmerlich aufgeheult und war

»Ramona«, sagte sie, »im Augenblick fühle ich eine gewisse Verwandtschaft mit Richard Widmark. So machen wir’s mit Verrätern, Schätzchen.«

Norville stand in einer Lache aus eigenem Blut, und auf ihrem Morgenmantel waren schließlich blutige Mohnblüten erschienen. Sie war kreidebleich im Gesicht. Ihre unnatürlich geweiteten Augen glitzerten vor Schock. Die Zungenspitze erschien und glitt langsam über die Unterlippe.

»Jetzt können Sie sich lange rumwälzen und darüber nachdenken - wie finden Sie das?«

Norville sackte zusammen. Ihre Männerschuhe machten in der Blutlache quatschende Geräusche. Sie tastete nach einem der anderen Regale und riss es dabei von der Wand. Ein Trupp Glücksbärchis kippte nach vorn und verübte Selbstmord.

Obwohl Tess nach wie vor weder Reue noch Bedauern empfand, merkte sie, dass sie trotz ihres großspurigen Geredes wenig von Tommy Udo in sich hatte; sie verspürte keinen Drang, Norvilles Leiden zu beobachten oder zu verlängern. Der Strickclub Willow Grove macht eine Fahrt ins Blaue geschrieben hatte.

Man wusste nie, wann Recherchen sich als nützlich erweisen würden.

»Sie verstehen das nicht.« Norvilles Stimme war ein heiseres Flüstern. »Das dürfen Sie nicht tun. Sie machen einen Fehler. Bringen Sie mich … Krankenhaus.«

»Den Fehler haben Sie gemacht.« Tess zog den Topfhandschuh über den Revolver in ihrer rechten Hand. »Als Sie Ihren Sohn nicht haben kastrieren lassen, sobald Sie wussten, wie er veranlagt ist.« Sie presste den Handschuh an Ramona Norvilles Schläfe, drehte den Kopf leicht zur Seite und drückte ab. Dabei war ein dumpfes, nachdrückliches Plah! zu hören, so als räusperte sich ein großer Mann energisch.

Das war alles.

35

Nach Al Strehlkes Adresse hatte sie nicht gegoogelt; sie hatte erwartet, sie von Ramona Norville zu erfahren. Aber wie sie sich schon selbst mahnend gesagt hatte, liefen solche Dinge nie nach Plan ab. Für sie kam es jetzt darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren und den Job zu Ende zu bringen.

Norvilles Arbeitszimmer lag im Obergeschoss, ein Raum, der vermutlich als Gästezimmer gedacht gewesen war. Dort

Mich hat sie nicht gebeten, mein Foto zu signieren, dachte Tess. Natürlich nicht, weshalb sollte sie den Wunsch haben, an eine beschissene Schreiberin wie mich erinnert zu werden? Ich war im Prinzip nur eine Sprechpuppe, die eine Lücke in ihrem Veranstaltungskalender füllen sollte. Von Fleisch für den Fleischwolf ihres Sohns ganz zu schweigen. Was für ein glücklicher Zufall für die beiden, dass ich genau zur rechten Zeit aufgekreuzt bin.

Auf Norvilles Schreibtisch stand unter einer Pinnwand voller Rundschreiben und Bibliotheksnotizen ein Mac, der Tess’ Computer sehr ähnlich sah. Der Bildschirm war dunkel, aber das Signallämpchen des Rechners zeigte ihr, dass der Mac sich nur im Ruhezustand befand. Sie tippte mit einer behandschuhten Fingerspitze auf eine der Tasten. Der Bildschirm wurde neu aufgebaut, und sie hatte Norvilles elektronischen Schreibtisch vor sich. Ganz ohne diese verdammten Passwörter, wie nett.