Das ist nur eine Vermutung. Vermutungen sind ge fährlich. Dafür würde Doreen dich ausschimpfen.
Natürlich würde sie das tun, niemand kannte die Ladys des Strickclubs besser als Tess, aber diese Desserts liebenden Mädels riskierten selten etwas. Wenn man das aber tat, war man auch gezwungen, eine gewisse Anzahl von Vermutungen anzustellen.
Tess sah auf ihre Armbanduhr und stellte überrascht fest, dass es erst kurz nach halb zehn war. Ihrem Gefühl nach war es vier Jahre her, dass sie Fritzy eine doppelte Ration gegeben und ihr Haus verlassen hatte. Vielleicht auch fünf. Auf einmal glaubte sie, einen näher kommenden Motor zu hören, was dann aber doch nicht zu stimmen schien. Sie wünschte sich, dass der Wind weniger laut heulen würde, aber wünsch dir in eine Hand und scheiß in die andere und sieh zu, welche schneller voll wird. Das war eine Redensart, die keine der Ladys des Strickclubs jemals benutzt hatte - Doreen Marquis und ihre Freundinnen tendierten eher zu Weisheiten wie Arbeit spart, wer Ordnung wahrt -, aber sie stimmte trotzdem.
Vielleicht hatte er wirklich einen Trip vor, Sonntagabend oder nicht. Vielleicht würde sie noch hier sein, wenn die Sonne aufging: durch den ständigen Wind, der über diesen einsamen Hügel strich, auf dem es nur Verrückte aushielten, bis auf die schon jetzt schmerzenden Knochen ausgekühlt.
Nein, er ist der Verrückte. Weißt du noch, wie er getanzt hat? Wie sein Schatten über die Wand hinter ihm geglitten ist? Wie er gesungen hat? Erinnerst du dich an seine Quiekstimme? Du wartest hier auf ihn, Tessa Jean. Du wartest, bis die Hölle zufriert. Du bist einen zu weiten Weg gegangen, um jetzt umzukehren.
Davor hatte sie tatsächlich sogar gewisse Angst.
Das hier wird kein dezenter Salonmord werden. Das verstehst du doch, oder?
Das tat sie. Dieser spezielle Mord - wenn sie es schaffte, ihn durchzuziehen - würde mehr Ähnlichkeit mit Der Pate 2 Der Strickclub Willow Grove hinter der Bühne haben. Strehlke würde vorfahren, hoffentlich gleich bis zu der Zugmaschine, hinter der sie versteckt war. Er würde die Scheinwerfer seines Pick-ups ausschalten, und bevor seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten …
Diesmal war es nicht der Wind. Sie erkannte das Brummen eines schlecht eingestellten Motors, noch bevor Scheinwerferlicht die Biegung der Einfahrt heraufkroch. Tess richtete sich auf einem Knie auf und zog ihre Mütze ruckartig tiefer in die Stirn, damit der Wind sie nicht wegwehen konnte. Sie würde sich ihm nähern müssen, was bedeutete, dass ihr Timing ungeheuer präzise sein musste. Sollte sie versuchen, ihn aus dem Hinterhalt zu treffen, konnte sie ihn selbst aus geringer Entfernung leicht verfehlen; ihr Schießausbilder hatte ihr erklärt, der Smith & Wesson sei nur auf Entfernungen unter drei Metern treffsicher. Er hatte ihr empfohlen, sich eine zuverlässigere Waffe zu kaufen, aber das hatte sie nie getan. Und nahe genug heranzukommen, um ihn sicher umlegen zu können, war nicht alles. Sie musste sich davon überzeugen, dass Strehlke in dem Truck saß - nicht sein Bruder oder irgendein Freund.
Ich habe keinen Plan.
Aber für einen Plan war es jetzt zu spät, denn da kam der blaue Pick-up, und als der Bewegungsmelder die Scheinwerfer aufflammen ließ, sah sie die braune Baseballmütze mit den Bleichmittelflecken. Sie sah auch, dass der Fahrer wie zuvor sie die Augen zusammenkniff, und wusste, dass er vorübergehend geblendet war. Jetzt oder nie!
Ich bin die Mutige Frau.
Ohne Plan, ohne auch nur nachzudenken, umrundete sie die Zugmaschine hinten: nicht rennend, sondern mit ruhigen großen Schritten. Der böige Wind ließ ihre Cargohose flattern. Sie riss die Beifahrertür auf und sah den Ring mit
»Nein, das ist er!« Tess stand mit dem Revolver in der Hand an der offenen Tür und starrte in den Wagen. »Er muss es sein!«
Sie rannte vorn um den Pick-up herum, rutschte unterwegs aus, sank auf ein Knie, rappelte sich auf und riss die Fahrertür auf. Der tote Strehlke fiel heraus und knallte mit dem Kopf auf den glatten Asphalt vor seiner Garage. Die Mütze flog weg. Das wegen der Kugel, die den Kopf dicht über der Braue durchschlagen hatte, schielende rechte Auge starrte den Mond an. Das linke Auge starrte Tess an. Und es war nicht das Gesicht, das sie letztlich überzeugte - dieses Gesicht mit Falten, die sie zum ersten Mal sah, dieses Gesicht mit tiefen alten Aknenarben, die am Freitag noch nicht da gewesen waren.
War er groß oder richtig groß?, hatte Betsy Neal gefragt.
Richtig groß, hatte Tess geantwortet … aber nicht so groß wie dieser Mann. Ihren Vergewaltiger hatte sie auf knapp zwei Meter geschätzt, als er aus seinem Pick-up gestiegen war (aus diesem Pick-up, das stand für sie fest). Gewaltiger Wanst, baumdicke Oberschenkel und türbreite Schultern. Aber dieser Mann hier musste mindestens zwei Meter zehn groß sein. Sie hatte Jagd auf einen Riesen gemacht und einen Leviathan erlegt.
»O Gott!«, sagte Tess, und der Wind riss ihr die Worte aus dem Mund. »O mein Gott, was habe ich getan?«
»Du hast mich erschossen, Tess«, sagte der vor ihr liegende Mann … und das klang angesichts des Lochs in seinem Kopf und des zweiten in seiner Kehle durchaus vernünftig. »Du bist hingegangen und hast Big Driver erschossen, genau wie du es vorhattest.«
Ihre Kräfte verließen sie. Sie sank neben ihm auf die Knie. Über ihr lächelte der Mond vom stürmischen Himmel herab.
»Der Ring«, flüsterte sie. »Die Mütze. Der Pick-up.«
»Ring und Mütze trägt er, wenn er auf die Jagd geht«, sagte Big Driver. »Und er fährt den Pick-up. Wenn er auf die Jagd geht, bin ich mit einem Sattelzug von Red Hawk auf der Straße unterwegs, und wenn irgendjemand ihn sieht - vor allem sitzend -, glaubt derjenige, mich zu sehen.«
»Weshalb sollte er das tun?«, fragte Tess den Toten. »Du bist sein Bruder.«
»Weil er verrückt ist«, sagte Big Driver geduldig.
»Und weil das schon früher funktioniert hat«, sagte Doreen Marquis. »Als sie noch jünger waren und Lester Schwierigkeiten mit der Polizei hatte. Die Frage ist, ob Roscoe Strehlke wegen dieser ersten Sache Selbstmord verübt hat - oder weil Ramona den großen Bruder dazu gezwungen hat, die Schuld auf sich zu nehmen. Vielleicht
Zu diesem Thema schwieg Al jedoch. Wie ein Grab.
»Ich will Ihnen sagen, was meiner Meinung nach passiert ist«, sagte Doreen im Mondschein. »Ich glaube, dass Ramona wusste, dass Ihr kleiner Bruder, wenn er im Vernehmungsraum an einen halbwegs cleveren Polizeibeamten geriete, etwas gestehen könnte, das weit schlimmer wäre, als im Schulbus ein Mädchen zu befummeln, im örtlichen Seufzergässchen Liebespaare zu beobachten oder welche Bagatellstraftat man ihm sonst anlasten wollte. Ich glaube, sie hat Sie dazu überredet, die Schuld auf sich zu nehmen, und ihren Ehemann dazu, den Mund zu halten. Oder sie hat ihn so unter Druck gesetzt, dass er nicht anders konnte. Und weil die Polizei das Mädchen nie aufgefordert hat, den Täter zu identifizieren, oder weil es keine Anzeige erstattet hat, sind Ramona und Lester damit durchgekommen.«
Al sagte nichts.
Tess dachte: Ich knie hier und rede mit imaginären Stimmen. Ich habe den Verstand verloren.
Trotzdem wusste ein Teil von ihr, dass sie versuchte, bei Verstand zu bleiben. Das konnte sie nur, wenn sie begriff, wie alles passiert war, und sie glaubte, dass die Geschichte, die sie mit Doreens Stimme erzählte, die Wahrheit war oder ihr zumindest sehr nahekam. Sie basierte auf Vermutungen und unbewiesenen Schlussfolgerungen, aber sie klang logisch. Und sie passte mit Ramonas letzten Äußerungen zusammen.