Du blöde Fotze, du weißt nicht, wovon du redest!
Und: Sie verstehen nicht. Das ist ein Fehler.
Es war ein Fehler, das stimmte. Alles, was sie in dieser Nacht getan hatte, war ein Fehler gewesen.
Nein, nicht alles. Sie war mitschuldig. Sie hat alles gewusst.
»Hast du es gewusst?«, fragte Tess den Mann, den sie erschossen hatte. Sie streckte eine Hand aus, um Strehlke am Arm zu fassen, und ließ sie dann sinken. Unter dem Ärmel würde er noch warm sein. Sich einbilden, er lebe noch. »Hast du es gewusst?«
Er gab keine Antwort.
»Lassen Sie es mich mal versuchen«, sagte Doreen. Und mit ihrer freundlichen Mir-können-Sie-alles-erzählen-Stimme einer alten Lady, die in Romanen immer wirkte, fragte sie: »Wie viel haben Sie gewusst, Mr. Driver?«
»Ich hatte manchmal einen Verdacht«, sagte er. »Aber die meiste Zeit hab ich nicht darüber nachgedacht. Ich musste mich um die Firma kümmern.«
»Haben Sie jemals Ihre Mutter gefragt?«
»Schon möglich«, sagte er, und Tess fand den Blick seines merkwürdig schielenden rechten Auges ausweichend. Aber wer konnte das in diesem abenteuerlichen Mondschein schon beurteilen? Wer konnte sich dessen sicher sein?
»Wenn Mädchen verschwunden sind? Haben Sie da gefragt?«
Darauf antwortete Big Driver nicht, vielleicht weil Doreen angefangen hatte, wie Fritzy zu sprechen. Und natürlich wie Tom das TomTom.
»Aber es hat nie einen Beweis gegeben, stimmt’s?« Das war wieder Tess selbst. Sie war sich nicht sicher, ob er auf ihre Stimme antworten würde, aber er tat es.
»Nein. Keinen Beweis.«
»Und du wolltest keinen Beweis, stimmt’s?«
Wieder keine Antwort, also stand Tess auf und ging unsicher zu der braunen Mütze mit den Bleichmittelflecken, die der Wind über die Einfahrt auf den Rasen geweht hatte. In dem Augenblick, in dem sie die Mütze aufhob, gingen die Scheinwerfer wieder aus. Drinnen hörte der Hund zu bellen auf. Sie musste unwillkürlich an Sherlock Holmes
Sie tippte an den Schirm der braunen Baseballmütze und fragte: »Ist das die Mütze, die du trägst, wenn du unterwegs bist?« Dabei wusste sie, dass sie es nicht war.
Strehlke schwieg, aber Doreen Marquis, die Doyenne des Strickclubs, antwortete für ihn. »Natürlich nicht. Wenn Sie für Red Hawk fahren, tragen Sie eine Red-Hawk-Mütze, nicht wahr, mein Lieber?«
»Ja«, sagte Strehlke.
»Und Sie tragen auch Ihren Ring nicht, hab ich recht?«
»Nein. Für Kunden zu protzig. Nicht geschäftsmäßig. Und was wäre, wenn in einer dieser miesen Truckerkneipen jemand, der zu bekifft oder betrunken ist, um es besser zu wissen, ihn für echt halten würde? Keiner würde riskieren, mich zu überfallen, dafür bin ich zu groß und stark - oder war es zumindest bis heute Nacht -, aber jemand könnte mich erschießen. Dabei hab ich’s nicht verdient, erschossen zu werden. Nicht wegen eines Talmirings, nicht wegen der schrecklichen Dinge, die mein Bruder vielleicht getan hat.«
»Ihr Bruder und Sie fahren nie gleichzeitig für die Firma, nicht wahr, mein Lieber?«
»Nein. Wenn er unterwegs ist, kümmere ich mich ums Büro. Und wenn ich unterwegs bin … na ja, ich denke, Sie wissen, was er tut, wenn ich unterwegs bin.«
»Du hättest ihn anzeigen müssen!«, kreischte Tess ihn an. »Auch wenn du nur einen Verdacht hattest, hättest du ihn anzeigen müssen!«
»Er hatte Angst«, sagte Doreen mit ihrer freundlichsten Stimme. »Nicht wahr, mein Lieber?«
»Ja«, sagte Al. »Ich hatte Angst.«
»Vor deinem Bruder?«, fragte Tess ungläubig oder bewusst zweifelnd. »Angst vor deinem kleinen Bruder?«
»Nicht vor ihm«, sagte Al Strehlke. »Vor ihr.«
39
Als Tess wieder am Steuer saß und den Motor anließ, sagte Tom: »Das konntest du unmöglich wissen, Tess. Und alles ist so schnell passiert.«
Das war sehr wahr, aber es ignorierte die entscheidende Tatsache, auf die allein es ankam: Indem sie in einem filmreifen Rachefeldzug Jagd auf ihren Vergewaltiger gemacht hatte, hatte sie sich selbst zur Hölle geschickt.
Sie hob den Revolver an die Schläfe, ließ ihn jedoch wieder sinken. Das durfte sie nicht, nicht jetzt. Sie musste weiter an die Frauen in der Wellblechröhre denken. An ihre Verpflichtung ihnen und den anderen gegenüber, die darin enden konnten, wenn Lester Strehlke entkam. Und nach dem, was sie vorhin getan hatte, war es wichtiger denn je, dass er nicht entkam.
Sie musste noch ein weiteres Ziel anfahren. Aber nicht mit ihrem Expedition.
40
Die Zufahrt zum Haus 101 Township Road war nicht lang, und sie war nicht asphaltiert. Sie bestand nur aus einer Fahrspur zwischen Büschen, die so eng standen, dass sie an den Seiten des alten blauen Ford F-150 kratzten, als Tess zu dem kleinen Haus fuhr. Dieses hatte nichts Aufgeräumtes an sich; dieses war ein schiefes altes Gruselhaus, das direkt aus The Texas Chainsaw Massacre hätte stammen können. Wie das Leben manchmal die Kunst imitierte! Und je primitiver die Kunst, desto realistischer die Imitation.
Tess machte sich nicht die Mühe, sich heimlich anzunähern - wozu die Scheinwerfer ausschalten, wenn Lester Strehlke das Motorengeräusch des Pick-ups seines Bruders fast so gut kannte wie die Stimme seines Bruders?
Sie trug weiter die fleckige braune Mütze, die Big Driver getragen hatte, wenn er nicht unterwegs gewesen war - seine Glücksbringermütze, die ihm zuletzt doch Unglück gebracht hatte. Der Ring mit dem falschen Rubin war für ihre Finger viel zu weit, aber sie hatte ihn in die linke Vordertasche ihrer Cargohose gesteckt. Little Driver hatte sich als sein großer Bruder getarnt, wenn er jagen gegangen war, und auch wenn er vielleicht nicht genug Zeit (oder genug Verstand) hatte, um die Ironie zu begreifen, die darin lag, dass sein letztes Opfer ihn mit diesen Requisiten aufsuchte, verstand Tess sie recht gut.
Tess parkte an der Hintertür, stellte den Motor ab und stieg aus. Ihre Waffe hielt sie in der Rechten. Die Tür war nicht abgesperrt. Sie betrat einen Anbau, in dem es nach Bier und verdorbenen Lebensmitteln roch. Von der Decke hing an einer schmutzigen Litze eine nackte 60-Watt-Birne herab. Vor sich hatte Tess vier überquellende Mülltonnen aus Kunststoff: 120-Liter-Tonnen, die es im Wal-Mart gab. Dahinter waren an der Wand des Anbaus mindestens fünf Onkel Henry’s Tauschführer gestapelt. Links sah sie eine weitere Tür, davor eine einzelne Stufe. Sie würde in die Küche führen. Diese Tür hatte keinen Knopf, sondern eine altmodische Klinke. Als Tess sie herunterdrückte und die Tür öffnete, quietschten ungeölte Angeln. Noch vor einer Stunde hätte ein solches Quietschen sie schreckensbleich erstarren lassen. Jetzt störte es sie nicht im Geringsten. Sie hatte ihre Arbeit zu tun. Darauf lief die Sache letztlich hinaus, und es war eine Erleichterung, von all dem emotionalen Ballast befreit zu sein. Sie trat in den Dunst irgendeines fettigen Stücks Fleisch, das Little Driver sich zum Abendessen gebraten hatte. Sie konnte TV-Lachen vom Band hören. Irgendeine Sitcom. Seinfeld, glaubte sie.
»Was zum Teufel machst du hier?«, rief Lester Strehlke aus der Umgebung der Lachkonserve. »Hab bloß noch eineinhalb Biere, wenn du deswegen kommst. Die trink ich noch, dann geh ich ins Bett.« Sie folgte dem Klang seiner Stimme. »Hättst du angerufen, hätt ich dir die Fahrt ersparen k…«