Tess zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Betsy, »aber ich weiß, was die Statistik bei Verbrechensopfern sagt, weil ich danach gegoogelt habe. Sechzig Prozent aller Vergewaltigungen werden nicht angezeigt, heißt es dort. Fast zwei Drittel! Ich glaube, dass dieser Prozentsatz zu niedrig ist, aber wer könnte das mit Sicherheit sagen? Außer im Matheunterricht ist es schwierig, etwas Negatives zu beweisen. Eigentlich sogar unmöglich.«
»Wer hat Sie vergewaltigt?«, fragte Tess.
»Mein Stiefvater«, sagte Betsy. »Ich war damals zwölf. Er hat mir ein Buttermesser vors Gesicht gehalten, während er es getan hat. Ich habe stillgehalten - ich hatte Angst -, aber es hat gezuckt, als er gekommen ist. Wahrscheinlich nicht absichtlich, aber wer weiß das schon?«
Betsy zog das untere Lid ihres linken Auges mit zwei Fingern der Linken herunter. Die rechte Hand hielt sie gewölbt darunter, und das Glasauge rollte glatt in die Handfläche. Die leicht nach oben zeigende leere Augenhöhle war schwach gerötet und schien überrascht in die Welt hinauszustarren.
»Die Schmerzen waren … na ja, solche Schmerzen lassen sich unmöglich beschreiben, wirklich nicht. Mir ist es vorgekommen, als würde die Welt untergehen. Und das viele Blut! Unmengen. Meine Mutter ist mit mir zum Arzt gegangen. Sie hat mir eingeschärft, ihm zu erzählen, ich wäre auf Strumpfsocken durch die Küche gelaufen und auf dem frisch gebohnerten Linoleum ausgerutscht. Ich wäre unglücklich gestürzt und hätte mir das Auge an einer Schrankecke ausgeschlagen. Sie hat gesagt, der Arzt würde allein mit mir reden wollen, aber sie verlasse sich auf mich. ›Ich weiß, dass er dir was Schlimmes angetan hat‹, hat sie gesagt, »aber wenn die Leute davon erfahren, machen sie mich dafür verantwortlich. Bitte, Schatz, tu mir diesen einen Gefallen, dann sorge ich dafür, dass dir nie wieder was Schlimmes passiert.‹ Also hab ich’s getan.«
»Und? Ist es wieder passiert?«
»Klar. Drei- oder viermal, das weiß ich nicht mehr genau. Und ich habe immer stillgehalten, weil ich nur noch ein Auge hatte, das ich für die gute Sache hätte opfern können. Hören Sie, sind wir hier fertig oder nicht?«
Tess wollte sie umarmen, aber Betsy wich zurück - wie ein Vampir, der ein Kruzifix sieht, dachte Tess.
»Tun Sie das nicht«, sagte Betsy.
»Aber …«
»Ich weiß, ich weiß, mucho Dank, Solidarität, auf ewig Schwestern, bla-bla-bla. Ich mag nur nicht umarmt werden. Sind wir hier fertig oder nicht?«
»Wir sind fertig.«
»Und an Ihrer Stelle würde ich den Revolver auf der Heimfahrt in den Fluss werfen. Haben Sie das Geständnis verbrannt?«
»Ja. Klar doch.«
Betsy nickte. »Und ich lösche die Nachricht, die Sie auf meinen Anrufbeantworter gesprochen haben.«
Tess ging davon. Sie sah sich dabei einmal um. Betsy Neal saß noch auf der Bank. Sie hatte ihr Auge wieder eingesetzt.
48
Als sie in ihrem Expedition saß, erkannte Tess, dass es eine extrem gute Idee sein könnte, die letzten Fahrten aus ihrem Navi zu löschen. Sie drückte den Einschaltknopf, und der Bildschirm leuchtete auf. Tom sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
Tess löschte die gespeicherten Routen, dann schaltete sie das Navi wieder aus. Sie machte eigentlich keinen Trip, sondern wollte nur nach Hause. Und sie traute sich zu, den Weg zurück selbst zu finden.
FAIRE VERLÄNGERUNG
Streeter sah das Schild nur, weil er am Straßenrand halten und spucken musste. Er spuckte jetzt oft und meistens ohne lange Vorwarnung - manchmal ein Anflug von Übelkeit, manchmal ein kupfriger Geschmack hinten im Mund und manchmal gar nichts; nur würg, und schon kam alles heraus, eine schöne Bescherung. Das machte das Autofahren zu einem riskanten Vorhaben, aber trotzdem fuhr er jetzt viel, teils weil er im Spätherbst nicht mehr würde fahren können und teils weil er über vieles nachdenken musste. Nachdenken hatte er immer am besten am Steuer können.
Er war auf der Harris Avenue Extension unterwegs: einer breiten Durchfahrtsstraße, die zwei Meilen weit den Derry County Airport entlang und zwischen den dort angesiedelten Firmen - hauptsächlich Motels und Lagerhäuser - hindurchführte. Auf dieser Verlängerung herrschte tagsüber lebhafter Verkehr, weil sie den Westen Derrys mit dem Osten verband und eine Flughafenzufahrt war, aber an diesem Abend war sie fast menschenleer. Streeter parkte auf dem Radweg, riss eine der durchsichtigen Plastikspucktüten von dem Stapel auf dem Beifahrersitz, hielt das Gesicht darüber und legte los. Sein Abendessen erschien nochmals. Allerdings nicht vor seinen Augen. Die hatte er nämlich geschlossen. Wenn man einmal eine volle Spucktüte gesehen hatte, kannte man sie alle.
Zu Beginn der Kotzphase hatte es noch keine Schmerzen gegeben. Dr. Henderson hatte ihn vorgewarnt, dass sich
Er hob den Kopf von dem Beutel, öffnete das Handschuhfach, holte ein Stück Bindedraht heraus und versiegelte sein Abendessen, bevor der ganze Wagen danach stank. Ein Blick nach rechts zeigte ihm glücklicherweise einen Abfallkorb mit einem fröhlichen schlappohrigen Köter und der Mahnung DERRY DAWG SAGT: »TUT ABFALL HIN, WO ER HINGEHÖRT!« in Schablonenschrift auf der Außenseite.
Streeter stieg aus, ging zu dem Abfallkorb hinüber und entsorgte den letzten Auswurf seines versagenden Körpers. Die Sommersonne ging rot über dem ebenen (und gegenwärtig verlassenen) Gelände des Flughafens unter, und der an seinen Hacken klebende Schatten war lang und grotesk dünn. Als wäre er Streeters Körper vier Monate voraus, bereits voll von dem Krebs erfasst, der ihn bald bei lebendigem Leib auffressen würde.
Er wollte zu seinem Wagen zurückgehen, als er das Schild auf der anderen Straßenseite sah. Zuerst glaubte er - wahrscheinlich weil seine Augen noch tränten -, es besage HAARVERLÄNGERUNG. Dann blinzelte er und sah, dass dort in Wirklichkeit FAIRE VERLÄNGERUNG stand. Und darunter in kleinerer Schrift: FAIRER PREIS.
Faire Verlängerung, fairer Preis. Das klang gut und irgendwie auch vernünftig.
Jenseits der Fahrbahn, außerhalb des Metallzauns, mit dem der County Airport eingezäunt war, erstreckte sich ein breiter Kiesstreifen. Dort bauten viele Leute tagsüber, wenn die Straße befahren war, alle möglichen Stände auf, weil
Nun, Krebs machte keinen Unterschied, was Geistesgaben betraf. Ob clever oder dumm, er würde bald den Platz verlassen und seinen Spielerdress ausziehen müssen.
Wo einst der Schneemann seine Ware ausgelegt hatte, war ein Kartentisch aufgestellt. Den hinter ihm sitzenden pummeligen Mann schützte ein großer gelber Schirm, der keck schräg gestellt war, vor den Strahlen der rot untergehenden Sonne.
Streeter stand eine Minute lang vor seinem Wagen, wäre fast wieder eingestiegen (der pummelige Mann achtete nicht auf ihn; er schien sich auf einem kleinen tragbaren Fernseher etwas anzusehen), aber dann siegte seine Neugier doch. Er sah nach links und rechts, sah kein Auto kommen - die Verlängerung war um diese Zeit wie erwartet wie tot, weil alle Pendler zu Hause beim Abendessen saßen und es für
Der pummelige Mann sah auf. »Hallo«, sagte er. Bevor er den Fernseher ausschaltete, sah Streeter noch, dass der Kerl sich die Nachrichtensendung Inside Edition angesehen hatte. »Wie geht’s uns heute Abend?«
»Na ja, was mit Ihnen ist, weiß ich nicht, aber mir ist es schon besser gegangen«, sagte Streeter. »Bisschen spät, um etwas zu verkaufen, oder? Außer in der Hauptverkehrszeit herrscht hier kaum Verkehr. Wir sind hier nämlich auf der Rückseite des Airports. Hier wird nur Fracht angeliefert. Fluggäste fahren über die Witcham Street an.«
»Ja«, sagte der pummelige Mann, »aber leider verbietet der Flächennutzungsplan kleine Straßenstände wie meinen auf der belebten Seite des Flughafens.« Er schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit der Welt. »Ich wollte um sieben Schluss machen und heimfahren, aber ich hatte das Gefühl, dass noch ein potenzieller Kunde vorbeikommen könnte.«