»Und ich möchte wetten, dass Sie sich ärztlich haben untersuchen lassen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von einem erfolgreichen Bankmanager erwarte ich nichts weniger. Haben Sie mir etwas mitgebracht?«
Streeter überlegte einen Augenblick lang, ob er davongehen sollte. Das tat er ernsthaft. Aber dann griff er in die Tasche seiner leichten Jacke (der Abend war für August kühl, und er selbst war noch ziemlich dünn) und holte etwas in einem winzigen Kleenex-Quadrat heraus. Er zögerte, dann legte er es Elvid hin, der es auswickelte.
»Ah, Atenolol«, sagte Elvid. Er warf die Pille ein und schluckte sie.
Streeter öffnete den Mund und schloss ihn langsam wieder.
»Starren Sie mich nicht so schockiert an«, sagte Elvid. »Hätten Sie einen so stressreichen Job wie ich, hätten Sie auch Bluthochdruckprobleme. Und das Sodbrennen, das ich oft habe, oje. Das wollen Sie gar nicht wissen.«
»Was passiert jetzt?«, fragte Streeter. Trotz der Jacke fröstelte ihn.
»Jetzt?« Elvid wirkte überrascht. »Jetzt fangen Sie an, Ihre fünfzehn Jahre bei guter Gesundheit zu genießen. Vielleicht auch zwanzig oder sogar fünfundzwanzig. Wer weiß?«
»Und das mit dem Glück?«
Elvid warf ihm einen schelmischen Blick zu. Er hätte amüsant sein können, wäre die Kälte nicht gewesen, die Streeter gleich darunter wahrnahm. Und das Alter. In diesem Augenblick war er sich sicher, dass George Elvid schon sehr lange in dieser Branche war, Sodbrennen hin oder her. »Für den Glücksaspekt sind Sie selbst zuständig, Dave. Und natürlich Ihre Familie - Janet, May und Justin.«
Hatte er Elvid ihre Namen gesagt? Das wusste er nicht mehr.
»Vielleicht hauptsächlich die Kinder. Eine alte Redensart besagt, Kinder seien etwas, was einem das Schicksal nehmen kann, aber in Wirklichkeit nehmen Kinder ihre Eltern als Geiseln, das denke ich. Eines könnte bei einem Unfall auf einer einsamen Landstraße sterben oder schwer verletzt werden … einer heimtückischen Krankheit zum Opfer fallen …«
»Soll das heißen …«
»Nein, nein, nein! Das ist keine moralinsaure Fabel. Ich bin Geschäftsmann, keine Figur aus ›Der Teufel und Daniel Webster‹. Ich sage nur, dass Ihr Glück in Ihren Händen und denen Ihrer nächsten Angehörigen liegt. Und wenn Sie glauben, dass ich in zwei Jahrzehnten oder so auftauche, um Ihre Seele in meine schimmelige alte Brieftasche zu stecken, täuschen Sie sich gewaltig. Außerdem sind die Seelen der Menschen erbärmlich dünn und durchscheinend geworden.«
Er sprach, fand Streeter, wie der Fuchs, nachdem er festgestellt hatte, dass die Trauben wirklich unerreichbar waren. Aber Streeter hatte nicht die Absicht, das auszusprechen. Nachdem der Handel nun abgeschlossen war, wollte er möglichst schnell fort. Trotzdem blieb er noch, wollte die Frage, die ihm auf der Seele lag, nicht stellen, und wusste doch, dass er es würde tun müssen. Weil hier keine Gratisgeschenke verteilt wurden; Streeter, der langjährige Erfahrung
Ganz einfach gesagt: Sie müssen jemanden ins Unglück stürzen, wenn das Unglück von Ihnen genommen werden soll.
Aber eine einzige Pille gegen Bluthochdruck zu klauen hieß nicht gerade, einen Menschen ins Unglück zu stürzen. Oder doch?
Elvid klappte unterdessen energisch seinen großen Schirm zusammen. Und als er eingerollt war, fiel Streeter eine erstaunliche und entmutigende Tatsache auf: Er war überhaupt nicht gelb. Er war so grau wie der Himmel. Der Sommer war fast vorbei.
»Die meisten meiner Kunden sind völlig zufrieden, völlig glücklich. Wollten Sie das hören?«
Gewiss … und doch wieder nicht.
»Ich spüre, dass Sie noch eine relevante Frage haben«, sagte Elvid. »Wenn Sie eine Antwort wollen, müssen Sie aufhören, um den heißen Brei herumzuschleichen, und sie stellen. Es wird bald regnen, und ich will vorher unter Dach sein. Das Letzte, was ich in meinem Alter brauche, ist eine Bronchitis.«
»Wo ist Ihr Auto?«
»Oh, war das Ihre Frage?« Elvid verhöhnte ihn jetzt offen. Sein Gesicht war hager, nicht im Geringsten pummelig, und das Weiße der leicht schräg stehenden Augen ging außen in ein unangenehmes und - ja, so war es - krebsartiges Schwarz über. Er sah wie der halb abgeschminkte unfreundlichste Clown der Welt aus.
»Ihre Zähne«, sagte Streeter benommen. »Sie haben Spitzen.«
»Ihre Frage, Mr. Streeter?«
»Wird Tom Goodhugh Krebs bekommen?«
Elvid starrte ihn einen Augenblick an, dann fing er zu kichern an. Der Laut war keuchend, staubig und unangenehm - wie das Geräusch einer verstummenden Dampforgel.
»Nein, Dave«, antwortete er. »Tom Goodhugh bekommt keinen Krebs. Nicht er.«
»Was dann? Was?«
Die Verachtung, mit der Elvid ihn musterte, bewirkte, dass Streeters Knochen sich schwach anfühlten - als hätte irgendeine schmerzlose, aber schrecklich korrosive Säure Löcher in sie hineingefressen. »Was kümmert Sie das? Sie hassen ihn, das haben Sie selbst gesagt.«
»Aber …«
»Sehen Sie zu. Warten Sie ab. Genießen Sie. Und nehmen Sie das hier.« Er gab Streeter eine Geschäftskarte. Unter dem Namen ÜBERKONFESSIONELLER KINDERFONDS stand die Adresse einer Bank auf den Kaimaninseln.
»Steueroase«, sagte Elvid. »Dorthin überweisen Sie meine fünfzehn Prozent. Wenn Sie schummeln, kriege ich das raus. Und dann wehe Ihnen, Kiddo!«
»Was ist, wenn meine Frau dahinterkommt und Fragen stellt?«
»Ihre Frau hat ein eigenes Scheckbuch. Mehr interessiert sie nicht. Sie verlässt sich auf Sie. Habe ich recht?«
»Nun …« Streeter sah, ohne überrascht zu sein, dass die Regentropfen, die Elvids Hände und Arme trafen, zischend verdampften. »Ja.«
»Natürlich habe ich recht. Wir sind fertig miteinander. Verschwinden Sie, fahren Sie zu Ihrer Frau zurück. Sie haben sie weiß Gott nicht verdient, aber ich bin mir sicher, dass sie Sie mit offenen Armen empfangen wird. Gehen Sie mit ihr ins Bett. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Frau Ihres besten Freundes bumsen. Sie haben sie nicht verdient, aber Sie sind ein Glückspilz.«
»Was wäre, wenn ich es zurücknehmen wollte?«, flüsterte Streeter.
Elvid bedachte ihn mit einem kalten Grinsen, das einen Ring aus spitzen Kannibalenzähnen sehen ließ. »Das können Sie nicht.«
Das war im August 2001, weniger als einen Monat vor dem Einsturz der Twin Towers.
Im Dezember (am selben Tag, an dem Winona Ryder wegen Ladendiebstahls festgenommen wurde) erklärte Dr. Roderick Henderson Dave Streeter offiziell für krebsfrei - und außerdem für ein echtes Wunder der Neuzeit.
»Ich weiß keine Erklärung dafür«, sagte Henderson.
Streeter wusste eine, hielt aber den Mund.
Dieses Gespräch fand in Hendersons Praxis statt. In dem kleinen Sprechzimmer im Derry Home Hospital, in dem Streeter die ersten Bilder seines auf wundersame Weise geheilten Körpers gesehen hatte, saß Norma Goodhugh auf demselben Stuhl und betrachtete weniger erfreuliche Schichtaufnahmen. Sie hörte benommen zu, als ihr Arzt ihr mitteilte - so schonend wie möglich -, der Knoten in ihrer linken Brust sei tatsächlich Krebs, der bereits die Lymphdrüsen erfasst habe.
»Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, sagte der Arzt und ergriff über den Tisch hinweg Normas kalte Hand. Er lächelte. »Wir sollten sofort mit der Chemotherapie beginnen.«
Im Juni des folgenden Jahres wurde Streeter endlich befördert. May Streeter wurde zum Graduiertenstudium an der Columbia School of Journalism zugelassen. Um beides zu feiern, holten Streeter und seine Frau einen lange verschobenen Urlaub auf Hawaii nach. Sie schliefen oft miteinander. An ihrem letzten Tag auf Maui rief Tom Goodhugh an.
»Wir sind für dich da«, versprach Streeter ihm.
Als er Janet die traurige Nachricht mitteilte, brach sie auf dem Bett zusammen und weinte mit vors Gesicht geschlagenen Händen. Streeter legte sich neben sie, hielt sie eng umarmt und dachte: Tja, wir wollten ohnehin heimfliegen. Und obwohl ihm Norma leidtat (und er Tom irgendwie bedauerte), hatte die Sache auch etwas Gutes: Sie hatten die Insektensaison verpasst, die in Derry scheußlich sein konnte.