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»Ich musste nur gerade an Brandolyn denken«, hörte sie sich selbst sagen.

»Oh, Baby«, sagte er, und das Mitgefühl in seiner Stimme war typisch für Bob. Sie kannte es gut. Hatte sie sich seit 1984 nicht oft darauf verlassen? Sogar schon vorher, als er noch um sie geworben und sie allmählich erkannt hatte, dass er der Richtige war? Gewiss hatte sie das getan. Wie er sich auf sie gestützt hatte. Die Idee, solches Mitgefühl könnte nichts als Zuckerguss auf einer vergifteten Torte sein, war verrückt. Die Tatsache, dass sie ihn in diesem Augenblick belog, war noch verrückter. Das heißt, falls es überhaupt Abstufungen von Verrücktheit gab. Oder vielleicht war »verrückt« ein Begriff wie »einzigartig«, für den es keine Steigerungsformen gab. Und was dachte sie wirklich? Was, um Himmels willen?

Aber er redete, und sie hatte keine Ahnung, was er eben gesagt hatte.

»Erzähl’s mir noch mal. Ich habe gerade nach meinem Tee gegriffen.« Noch eine Lüge, ihre Hände waren viel zu zittrig, um nach irgendetwas greifen zu können, aber eine plausible Notlüge. Und ihre Stimme zitterte nicht. Wenigstens glaubte sie das.

»Ich habe gefragt: Wie bist du darauf gekommen?«

»Donnie hat angerufen und nach seiner Schwester gefragt. Dabei habe ich an meine denken müssen. Ich bin rausgegangen und ein bisschen herumgelaufen. Ich bin ins Schniefen gekommen, aber daran war zum Teil auch die Kälte schuld. Das hast du wahrscheinlich in meiner Stimme gehört.«

»Ja, sofort«, sagte er. »Hör zu, ich könnte morgen Burlington auslassen und gleich nach Hause kommen.«

Darcy hätte beinahe Nein! gerufen, aber das wäre genau die falsche Reaktion gewesen. Sie konnte bewirken, dass er bei Tagesanbruch losfuhr, ganz der besorgte Ehemann.

»Wenn du das tust, verpasse ich dir ein blaues Auge«, sagte sie und war erleichtert, als er lachte. »Charlie Frady hat dir erzählt, dass es sich lohnt, zu dieser Nachlassversteigerung in Burlington zu fahren, und er hat gute Kontakte. Und einen guten Riecher. Das hast du immer selbst gesagt.«

»Genau, aber mir gefällt es nun mal nicht, wenn du so deprimiert klingst.«

Dass er gespürt hatte (und zwar sofort! sofort!), dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, war schlecht. Dass sie hatte lügen müssen, was den Grund dafür betraf … ach, das war noch schlimmer. Sie schloss die Augen, sah Bad Bitch Brenda unter der schwarzen Kapuze schreien, und öffnete sie wieder.

»Ich war ein bisschen down, aber das ist vorbei«, sagte sie. »Nur eine vorübergehende Anwandlung. Sie war meine

»Ja, ich weiß«, sagte er. Wohl wahr. Der Tod ihrer Schwester war zwar nicht der Grund dafür gewesen, dass sie sich in Bob Anderson verliebt hatte, aber sein Verständnis für ihren Kummer hatte ihren Zusammenhalt gestärkt.

Brandolyn Madsen war beim Langlaufen von einem betrunkenen Schneemobilfahrer angefahren und tödlich verletzt worden. Er hatte Fahrerflucht begangen und die Tote eine halbe Meile vom Haus der Familie Madsen entfernt im Wald liegen lassen. Als Brandi um acht Uhr abends noch nicht zurück war, waren zwei Polizeibeamte und die örtliche Bürgerwehr zu einer Suchaktion aufgebrochen. Darcys Vater hatte die Leiche gefunden und durch den Wald nach Hause getragen. Darcy, die im Wohnzimmer stationiert war, um das Telefon zu überwachen und ihre Mutter zu beruhigen, hatte ihn als Erste gesehen. Er hatte weiße Atemwolken ausgestoßen, als er im harten Licht des Wintervollmonds über den Rasen gekommen war. Darcys erster Gedanke (der ihr noch heute peinlich war) war eine Erinnerung an die kitschigen Liebesfilme in Schwarz-Weiß gewesen, die manchmal auf dem TCM-Spielfilmkanal gezeigt wurden - in denen irgendein Kerl seine Frischangetraute über die Schwelle ihres Flitterwochenhäuschens trug, während fünfzig Violinen Sirup auf die Tonspur gossen.

Bob Anderson, das hatte Darcy entdeckt, konnte sich in andere hineinversetzen, wie es nur wenige Menschen konnten. Er hatte zwar keinen Bruder, keine Schwester verloren, aber seinen besten Freund. Der Junge war auf die Straße gelaufen, um einen beim Pick-up-Baseball danebengegangenen Ball zu fangen (wenigstens nicht Bobs Wurf; da er

»Bleib in Vermont, Bob. Geh zu der Nachlassversteigerung. Ich liebe dich dafür, dass du besorgt bist, aber wenn du jetzt heimgerannt kommst, komme ich mir kindisch vor. Und dann werde ich wütend.«

»Okay. Aber ich rufe dich morgen früh um halb acht an. Du bist gewarnt!«

Sie lachte und hörte erleichtert, dass das echt klang … wenigstens so real, dass kein Unterschied zu erkennen war. Und weshalb sollte ihr kein richtiges Lachen gestattet sein? Warum zum Teufel eigentlich nicht? Sie liebte ihn und würde die Unschuldsvermutung für ihn gelten lassen. Rückhaltlos. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Man konnte Liebe nicht abstellen - sogar die geistesabwesende, oft als selbstverständlich vorausgesetzte Liebe nach siebenundzwanzig Ehejahren -, wie man einen Wasserhahn zudrehte. Liebe kam aus dem Herzen, und das Herz hatte seine eigenen Erfordernisse.

»Bobby, du rufst immer um halb acht an.«

»Schuldig im Sinne der Anklage. Ruf mich jederzeit an, wenn du …«

»… etwas brauchst, und wenn’s noch so spät ist«, ergänzte Darcy für ihn. Jetzt fühlte sie sich fast wieder wie sie selbst. Wirklich erstaunlich, wie viele schwere Schläge die menschliche Psyche einstecken konnte, ohne am Boden zerstört zu sein. »Das tue ich.«

»Liebe dich, Schatz.« Die Schlussformel so vieler Telefongespräche über die Jahre hinweg.

»Liebe dich auch«, sagte sie lächelnd. Dann legte sie den Hörer auf, drückte die Stirn an die Wand und begann zu weinen, bevor das Lächeln ihr Gesicht verlassen konnte.

6

Ihr Computer, ein iMac, der alt genug war, um modisch retro zu wirken, stand im Hauswirtschaftsraum. Sie benutzte ihn selten für etwas anderes als E-Mails und eBay, aber jetzt öffnete sie Google und tippte den Namen Marjorie Duvall ein. Sie zögerte, bevor sie auch Beadie in das Suchfeld schrieb, aber nicht lange. Wozu die quälenden Zweifel künstlich verlängern? Er würde in diesem Zusammenhang ohnehin auftauchen, dessen war sie sich sicher. Sie drückte die Eingabetaste, und während sie zusah, wie der kleine Wartekreis sich immer wieder um sich selbst drehte, kamen die Krämpfe von vorhin zurück. Sie lief ins Bad, sank aufs WC und bedeckte ihr Gesicht dort sitzend mit den Händen. Auf der Innenseite der Badezimmertür klebte ein großer Spiegel, in dem sie sich nicht sehen wollte. Wieso war er überhaupt dort? Wieso hatte sie zugelassen, dass er dort war? Wer wollte sich auf dem Topf sitzen sehen? Selbst in besten Zeiten, zu denen dieser Abend ganz sicher nicht gehörte?

Darcy kehrte langsam an ihren Computer zurück, schlurfte dahin wie ein Kind, das genau wusste, dass es eine Strafe für etwas zu erwarten hatte, was ihre Mutter etwas gaaanz Schlimmes genannt hätte. Sie sah, dass Google über fünf Millionen Suchergebnisse geliefert hatte: O allmächtiges Google, so freigebig und so schrecklich. Über das erste musste sie jedoch tatsächlich lachen; es forderte sie auf, Marjorie Duvall Beadie auf Twitter zu verfolgen. Darcy

Das zweite Ergebnis kam vom Portland Press-Herald, und als Darcy es anklickte, war das Foto, das sie begrüßte (nur fühlte diese Begrüßung sich wie eine Ohrfeige an), die Aufnahme, an die sie sich aus dem Fernsehen erinnerte - und vermutlich aus genau diesem Artikel, weil der Press-Herald ihre Zeitung war. Der Bericht war vor zehn Tagen erschienen und damals der Aufmacher gewesen. FRAU AUS NEW HAMPSHIRE KÖNNTE »BEADIES« ELFTES OPFER GEWESEN SEIN, verkündete die Schlagzeile. Und darunter: Polizeisprecher: »Wir sind uns zu 90 Prozent sicher.«

Auf dem Zeitungsfoto sah Marjorie Duvall viel hübscher aus: Es war eine Atelieraufnahme, die sie in klassischer Pose in einem schulterfreien schwarzen Chiffonabendkleid zeigte. Sie trug das Haar offen und war auf diesem Bild viel heller blond. Darcy fragte sich, ob ihr Ehemann dieses Foto zur Verfügung gestellt hatte. Sie vermutete, dass er es getan hatte. Sie vermutete, es habe im Haus 17 Honey Lane auf dem Kaminsims gestanden oder in der Diele gehangen. Die attraktive Dame des Hauses, die die Gäste mit ihrem ewigen Lächeln begrüßte.