Außerdem gab es Petra und Michael, die vielleicht in diesem Augenblick die Köpfe zusammensteckten und weitere Heiratspläne schmiedeten, ohne zu ahnen, dass ein Zweitonnengeldschrank an einem stark ausgefransten Seil über ihnen hing. Pets hatte ihren Vater immer vergöttert. Was würde sie tun, wenn sie erfuhr, dass die Hände, die sie früher auf der Gartenschaukel angestoßen hatten, elf Frauen erwürgt hatten? Dass sich unter den Lippen, die ihr Gutenachtküsse gegeben hatten, Zähne verbargen, die elf Frauen gebissen hatten, in einigen Fällen bis auf die Knochen?
Als Darcy wieder am Computer saß, stieg vor ihrem inneren Auge eine schreckliche Schlagzeile auf. Darunter war ein Foto abgebildet, das Bob mit seinem Halstuch, absurden Khakishorts und braunen Kniestrümpfen zeigte. Die Schlagzeile war so deutlich, als wäre sie schon gedruckt:
MASSENMÖRDER »BEADIE«
17 JAHRE LANG PFADFINDERFÜHRER
Darcy schlug sich eine Hand vor den Mund. Sie konnte spüren, wie ihre Augen in den Höhlen pulsierten. Sie dachte an Selbstmord, und einige Augenblicke lang (die ihr endlos vorkamen) erschien ihr diese Idee völlig rational, die einzig vernünftige Lösung. Sie konnte in einem Abschiedsbrief behaupten, sie habe gefürchtet, Krebs zu haben. Oder früh einsetzende Alzheimer-Krankheit, das war noch besser. Nur warfen auch Selbstmorde tiefe Schatten über eine Familie - und was war, wenn sie sich geirrt hatte? Wenn Bob die drei Ausweiskarten irgendwo am Straßenrand gefunden hatte?
Weißt du, wie unwahrscheinlich das ist?, höhnte die Clevere Darcy.
Okay, ja, aber unwahrscheinlich war nicht das Gleiche wie unmöglich, oder? Und es gab noch etwas, was den Käfig, in dem sie steckte, endgültig ausbruchssicher machte: Was war, wenn sie recht hatte? Würde ihr Selbstmord Bob nicht die Möglichkeit geben, noch mehr zu morden, weil er dann kein Doppelleben mehr würde führen müssen? Darcy wusste nicht genau, ob sie an eine bewusste Existenz nach dem Tod glaubte, aber wenn es eine gab? Und wenn dort nicht elysisches Grün und Flüsse, in denen Milch und Honig floss, auf sie warteten, sondern ein gespenstisches Empfangskomitee aus erwürgten Frauen mit Bissspuren von Bobs Zähnen, die ihr alle vorwarfen, an ihrem Tod
Sie dachte: Ich wollte, ich wäre tot.
Aber das war sie nicht.
Zum ersten Mal seit Jahren glitt Darcy Madsen Anderson von ihrem Stuhl auf die Knie und begann zu beten. Das half nichts. Sie blieb im Haus ganz allein.
7
Sie hatte nie Tagebuch geführt, aber in ihrem Schreibtisch bewahrte sie noch alle Terminkalender der letzten zehn Jahre auf. Und Bobs Reiseunterlagen, die Jahrzehnte zurückreichten, füllten mehrere Ordner in dem Aktenschrank, der in seinem Büro hier im Haus stand. Als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater (noch dazu mit einer ordnungsgemäß als Firma eingetragenen Nebenbeschäftigung) führte er seine Aufzeichnungen pedantisch genau und nahm jede Möglichkeit, etwas steuerlich abzusetzen, jeden Freibetrag und jeden Cent an Autoabschreibung mit, den er bekommen konnte.
Sie stapelte seine Ordner mit ihren Terminkalendern neben dem Computer. Sie rief nochmals Google auf, zwang sich zu den erforderlichen Recherchen und notierte sich die Namen und den Todeszeitpunkt (manchmal notwendigerweise bloß geschätzt) von Beadies Opfern. Während die Digitaluhr in der Taskleiste ihres Computers lautlos die
Sie hätte zehn Jahre ihres Lebens dafür gegeben, irgendetwas zu finden, was ihn auch nur in einem Fall unwiderlegbar als möglichen Täter eliminierte, aber ihre Terminkalender machten alles noch schlimmer. Kellie Gervais aus Keene, New Hampshire, war am 15. März 2004 im Wald hinter der örtlichen Mülldeponie aufgefunden worden. Seit drei bis fünf Tagen tot, wie der Leichenbeschauer in seinem Bericht festgestellt hatte. In Darcys Terminkalender für 2004 war für den 10. bis 12. März groß eingetragen: Bob bei Fitzwilliam, Brat. George Fitzwilliam war ein reicher Mandant von Benson, Bacon & Anderson. Brat war ihre Abkürzung für Fitzwilliams Wohnort Brattleboro. Von dort aus war Keene, New Hampshire, mit dem Auto leicht zu erreichen.
Helen Shaverstone und ihr Sohn Robert waren am 11. November 2007 am Rand der Kleinstadt Amesbury im Newrie Creek aufgefunden worden. Die beiden hatten ungefähr zwölf Meilen entfernt in Tassel Village gelebt. Auf dem Novemberblatt ihres Terminkalenders für 2007 hatte sie den Zeitraum vom 8. bis 10. November markiert und dazugeschrieben: Bob in Saugus, 2 Nachlassversteigerungen plus Münzauktion Boston. Und erinnerte sie sich nicht, an einem dieser Abende in seinem Motel in Saugus angerufen zu haben, ohne ihn zu erreichen? Hatte sie nicht vermutet, er sei mit irgendeinem Münzhändler beim Abendessen, auf der Jagd nach Schnäppchen oder unter der Dusche? Daran schien sie sich zu erinnern. Aber war er dann an diesem Abend mit dem Auto unterwegs gewesen? War er auf der Rückfahrt von einem Job (eine kleine Auslieferung) in der Kleinstadt Amesbury gewesen? Oder falls er unter der Dusche gestanden hatte, was um Himmels willen hatte er von sich abgespült?
Als die Taskleistenuhr über 23 Uhr hinausging und sich der Mitternacht näherte - der Geisterstunde, in der sich angeblich die Gräber öffneten -, wandte sie sich seinen Reiseunterlagen und -abrechnungen zu. Sie arbeitete sorgfältig und kontrollierte vieles mehrfach. Das Zeug aus den späten Siebzigerjahren war lückenhaft und nicht sehr aussagekräftig - Bob war damals nur ein kleiner Mitarbeiter seiner Firma gewesen -, aber ab den Achtzigerjahren war alles da, und die Übereinstimmungen mit den Beadie-Morden der Jahre 1980 und 1981 waren eindeutig und unwiderlegbar. Er war zur passenden Zeit in den richtigen Gebieten unterwegs gewesen. Und wenn man in jemands Haus genügend Katzenhaare fand, argumentierte die Clevere Darcy, dann musste man fast zwangsläufig annehmen, dort gebe es irgendwo eine Katze.
Was soll ich jetzt tun?
Die Antwort schien zu lauten: Nimm deinen angstvoll verwirrten Kopf mit nach oben. Sie bezweifelte, dass sie würde schlafen können, aber wenigstens konnte sie heiß duschen und sich dann hinlegen. Sie war erschöpft, hatte Rückenschmerzen, weil sie sich krampfhaft übergeben hatte, und stank nach ihrem eigenen Schweiß.
Sie schaltete den Computer aus und schleppte sich mühsam in den ersten Stock hinauf, wobei sie das Geländer umklammerte, weil sie zu wissen glaubte, dass sie sonst ohnmächtig werden und die Treppe hinunterstürzen würde. Das heiße Wasser linderte ihre Rückenschmerzen, und ein paar Tylenol würden sie bis gegen zwei Uhr vermutlich weiter lindern; sie war davon überzeugt, dass sie dann noch immer wach sein würde. Als sie das Tylenol in den Medizinschrank zurückstellte, nahm sie das Fläschchen mit Ambien heraus, behielt es fast eine Minute lang in der Hand und stellte es dann ebenfalls zurück. Es würde ihr keinen Schlaf bringen, sondern sie nur benommen
Sie legte sich hin und sah zu dem Nachttisch auf der anderen Seite des Betts hinüber. Bobs Wecker. Bobs Ersatzlesebrille. Ein Buch mit dem Titel Die Hütte. Du solltest es auch lesen, Darce, es kann wirklich dazu führen, dass man sein Leben ändert, hatte er zwei oder drei Abende vor dieser letzten Reise gesagt.
Sie knipste ihre Lampe aus, sah Stacey Moore mit gefesselten Händen tot vor dem Maiskasten knien, in dem ihr Kopf steckte, und machte wieder Licht. In den meisten Nächten war das Dunkel ihr Freund - der gütige Vorbote des Schlafs -, aber nicht in dieser Nacht. Heute Nacht war das Dunkel von Bobs unaussprechlichem Harem bevölkert.
Das weißt du doch gar nicht! Merk dir, dass du das absolut nicht weißt.
Aber wenn man genügend Katzenhaare findet …
Jetzt auch Schluss mit den Katzenhaaren.
Sie lag da, sogar noch wacher, als sie zu sein befürchtet hatte, und ihre Gedanken bewegten sich im Kreis, mal dachte sie an die Opfer, mal an ihre Kinder, mal an sich selbst, sogar an eine längst vergessene Geschichte aus der Bibel über Jesus, der im Garten Gethsemane betete. Als sie glaubte, mindestens eine Stunde mit diesem elend sorgenvollen Rundlauf verbracht zu haben, sah sie auf Bobs Wecker, dass nur zwölf Minuten verstrichen waren. Sie richtete sich kurz auf einem Ellbogen auf, um den Wecker von sich weg zum Fenster hinzudrehen.