Er kommt morgen nicht vor sechs Uhr abends nach Hause, dachte sie … obwohl er streng genommen heute Abend heimkam, sagte sie sich, weil es nun schon eine Viertelstunde nach Mitternacht war. Trotzdem blieben ihr so achtzehn Stunden. Bestimmt Zeit genug, um zu irgendeiner Marjorie Duvall oder an Stacey Moore oder (das war am schlimmsten) an Robert Shaverstone, zehn Jahre alt, ER MUSSTE NICHT »LEIDEN«. Und dann war jeglicher Schlaf wieder unmöglich. Ihr kam sogar der Gedanke, sie würde nie mehr wieder schlafen können. Das war natürlich ausgeschlossen, aber als sie so dalag und noch Kotzegeschmack im Mund hatte, obwohl sie mit Scope gegurgelt hatte, erschien ihr das völlig plausibel.
Irgendwann merkte sie, dass sie sich an ein Jahr in früher Kindheit erinnerte, in dem sie auf der Suche nach Spiegeln durchs Haus gestreift war. Sie hatte sich vor ihnen aufgebaut, beide Hände seitlich ans Gesicht gelegt und mit der Nasenspitze das Glas berührt, ohne jedoch zu atmen, damit der Spiegel nicht beschlug.
Wenn ihre Mutter sie so antraf, war sie immer weggeschubst worden. Davon bleibt ein Fleck, den ich wieder wegputzen muss. Warum interessierst du dich überhaupt so für dich selbst? Du wirst niemals wegen Schönheit gehenkt werden. Und wieso stehst du so dicht davor? Aus dieser Nähe kannst du nichts erkennen, was sich zu sehen lohnt.
Wie alt war sie damals gewesen? Vier? Fünf? Zu jung, um zu erklären, dass sie sich ohnehin nicht für ihr Spiegelbild interessierte - jedenfalls nicht in erster Linie. Sie war davon überzeugt gewesen, Spiegel seien Portale in eine andere Welt, und was sie darin sah, sei nicht ihr Wohnzimmer oder Bad, sondern das Wohnzimmer oder Bad irgendeiner anderen Familie. Vielleicht das der Matsons statt dem der Madsens. Weil hinter dem Glas alles ähnlich, aber nicht gleich war; wenn man nur lange genug hineinsah, konnte unheimlichen Grund) in Kirchen, in denen Hochzeiten stattgefunden hatten, Reiskörner auflesen.
Im Lichtkreis ihrer Nachttischlampe dösend, ohne es recht zu merken, vermutete Darcy, dass sie einige Zeit bei einem Kinderpsychiater hätte verbringen müssen, wenn sie imstande gewesen wäre, ihrer Mutter zu erklären, wonach sie Ausschau hielt, und ihr von dem Dunkleren Mädchen erzählt hätte, das nicht ganz sie selbst war. Dabei war es nicht das Mädchen gewesen, das sie interessiert hatte, es war niemals das Mädchen gewesen. Interessiert hatte sie die Vorstellung, hinter den Spiegeln liege eine ganze neue Welt, und wenn man durch dieses andere Haus (das Dunklere Haus) gehen und aus der Tür treten könne, erwarte einen dort der Rest jener Welt.
Natürlich hatte diese Idee sich wieder gegeben, und dank einer neuen Puppe (die sie nach dem Pfannkuchensirup, den sie so liebte, Mrs. Butterworth nannte) und einer neuen Puppenstube war sie zu akzeptableren Kleinmädchenphantasien übergegangen: kochen, putzen, einkaufen, das Baby ausschimpfen, sich zum Abendessen umziehen. Jetzt, nach all den Jahren, hatte sie doch einen Weg durch den Spiegel gefunden. Nur erwartete sie in dem Dunkleren Haus kein kleines Mädchen; stattdessen gab es anscheinend einen Dunkleren Ehemann, der die ganze Zeit hinter dem Spiegel gelebt und dort schreckliche Dinge getan hatte.
Ein gutes Stück zu einem fairem Preis, sagte Bob gern - ein Buchhaltermotto, wenn es je eines gegeben hatte.
Aufrecht und die Luft schnüffelnd - eine Antwort auf Na, wie geht’s?, die jeder Junge in jeder Gruppe von Jungpfadfindern, die er jemals auf dem furchterregenden Dead Man’s Trail hinter dem Einkaufszentrum Golden Grove geführt hatte, gut kannte. Eine Antwort, die manche der Jungen zweifellos noch als erwachsene Männer wiederholen würden.
Gentlemen bevorzugen Blondinen, vergiss den nicht. Weil sie nicht warten wollen …
Aber dann überwältigte der Schlaf Darcy, und obwohl diese sanfte Nährmutter sie nicht weit tragen konnte, glätteten die Falten auf ihrer Stirn und in den Winkeln ihrer geröteten, verschwollenen Augen sich etwas. Sie war dem Bewusstsein nahe genug, um sich zu bewegen, als ihr Mann in die Einfahrt abbog, aber nicht genug, um aufzuwachen. Das hätte sie vielleicht getan, wären die Scheinwerferstrahlen des Suburban über die Zimmerdecke gehuscht, aber Bob hatte sie schon eine halbe Straße vorher ausgeschaltet, um sie nicht aufzuwecken.
8
Eine Katze streichelte ihre Wange mit samtweicher Pfote. Ganz leicht, aber sehr nachdrücklich.
Darcy versuchte sie wegzuwischen, aber ihre Hand schien eine halbe Tonne zu wiegen. Und dies war ohnehin nur ein Traum - es musste einer sein, weil sie keine Katze hatten. Gibt es andererseits in einem Haus genügend Katzenhaare, muss es irgendwo eine geben, sagte ihr Verstand, der ums Aufwachen kämpfte, ihr durchaus vernünftig.
Jetzt streichelte die Pfote ihren Pony und die Stirn darunter, und das konnte keine Katze sein, weil Katzen nicht reden konnten.
»Wach auf, Darce. Wach auf, Schatz. Wir müssen miteinander reden.«
Eine Stimme, sanft und wohltuend wie die Berührung. Bobs Stimme. Und keine Katzenpfote, sondern eine Hand. Bobs Hand. Nur konnte das nicht seine sein, weil er in Montp…
Sie riss die Augen auf, und da war er tatsächlich, saß neben ihr auf der Bettkante und streichelte ihr Gesicht und ihr Haar, wie er es manchmal tat, wenn sie gesundheitlich nicht ganz auf dem Posten war. Er trug einen Dreiteiler von Joseph A. Bank (dort kaufte er alle seine Anzüge und nannte das Geschäft - ein weiterer seiner halb amüsanten Ausdrücke - »Joss-Bank«), aber Weste und Hemdkragen waren aufgeknöpft. Sie konnte sehen, dass ein Ende seiner Krawatte wie eine rote Zunge aus seiner Jackentasche ragte. Der Bauch quoll ihm über den Gürtel, und ihr erster zusammenhängender Gedanke war: Du musst wirklich etwas gegen dein Übergewicht tun, Bobby, es ist nicht gut für dein Herz.
»Wa…?« Es kam als fast unverständliches Krächzen heraus.
Er lächelte und streichelte weiter ihr Haar, ihre Wange, ihren Nacken. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal.
»Was machst du hier, Bobby? Es muss schon …« Sie hob den Kopf, um auf seinen Wecker zu sehen, aber das nutzte natürlich nichts. Sie hatte das Zifferblatt zum Fenster hin weggedreht.
Er sah auf seine Armbanduhr. Er hatte gelächelt, während er sie wachgestreichelt hatte, und er lächelte auch jetzt. »Viertel vor drei. Nachdem wir telefoniert haben, habe ich
Seine Hand, die ihr Gesicht streichelte. Diese Berührung war ihr vertraut, selbst der Geruch war vertraut, und sie hatte sein Streicheln immer geliebt. Jetzt tat sie es nicht, und das lag nicht nur an den schrecklichen Entdeckungen dieser Nacht. Wie konnte ihr bisher entgangen sein, wie selbstgefällig besitzergreifend seine Berührung war? Du bist eine alte Hündin, aber du bist meine alte Hündin, schien sie zu sagen. Nur hast du diesmal eine Pfütze gemacht, während ich weg war, und das ist schlimm. Das ist sogar gaaanz schlimm.
Sie schob seine Hand weg und setzte sich auf. »Um Himmels willen, wovon redest du? Du schleichst dich hier rein, du weckst mich auf …«
»Ja, du hast bei Licht geschlafen - das habe ich gleich gesehen, als ich in die Einfahrt eingebogen bin.« Sein Lächeln war nicht im Geringsten schuldbewusst. Auch nicht bedrohlich. Es war das gutmütige Bob-Anderson-Lächeln, das sie fast von Anfang an geliebt hatte. Einen Augenblick lang hing sie der Erinnerung nach, wie sanft er in ihrer Hochzeitsnacht gewesen war, wie er sie nicht gedrängt hatte. Wie er ihr Zeit gelassen hatte, sich an das Neue zu gewöhnen.