Möglicherweise war es auch die Stimme des Dunkleren Mädchens.
Wieso nicht?, fragte die Stimme. Schließlich hat er auch dich reingelegt.
Und was dann? Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass jetzt jetzt war - und jetzt bewältigt werden musste.
»Du müsstest versprechen, damit aufzuhören«, sagte sie sehr langsam und widerstrebend. »Dein feierlichstes Versprechen ablegen, das du niemals brechen würdest.«
Die auf seinem Gesicht erscheinende Erleichterung war so total - so jungenhaft irgendwie -, dass sie gerührt war. Er hatte in der letzen Zeit nur selten so wie der Junge ausgesehen, der er einst gewesen war. Aber natürlich war das auch der Junge gewesen, der damals mit Waffen in die Schule hatte gehen wollen. »Das täte ich, Darce. Das tue ich. Ich versprech’s dir. Wie ich dir schon gesagt habe.«
»Und wir könnten nie wieder über diese Sache reden.«
»Das verstehe ich.«
»Und du darfst Marjorie Duvalls Ausweiskarten nicht der Polizei schicken.«
Sie sah sein enttäuschtes Gesicht (ebenfalls unheimlich jungenhaft), als sie das sagte, aber sie würde darauf beharren. Er musste das Gefühl haben, bestraft worden zu sein, wenn auch nur ein wenig. So würde er glauben, sie überzeugt zu haben.
Tut er das? Oh, Darcellen, tut er das?
»Ich brauche mehr als nur Versprechungen, Bobby. Taten sprechen lauter als Worte. Ich will, dass du die Ausweiskarten der Frau irgendwo im Wald vergräbst.«
»Und sobald ich das getan habe, sind wir …«
Sie streckte den Arm aus und hielt ihm den Mund mit der Hand zu. Sie bemühte sich, streng zu sprechen. »Still! Kein Wort mehr.«
»Okay. Danke, Darcy. Innigen Dank.«
»Ich weiß nicht, wofür du dich bedankst. Nichts ist passiert, außer dass du diesmal früher heimgekommen bist.« Und obwohl die Vorstellung, ihn neben sich liegen zu haben, sie mit Abscheu und Entsetzen erfüllte, zwang sie sich dazu, den Rest zu sagen.
»Jetzt zieh dich aus und komm ins Bett. Wir brauchen beide etwas Schlaf.«
10
Er war praktisch in dem Augenblick weg, in dem sein Kopf das Kissen berührte, aber lange nachdem sein leises, zurückhaltendes Schnarchen eingesetzt hatte, lag Darcy noch wach, weil sie befürchtete, von seinen Händen um den Hals aufzuwachen, wenn sie zuließ, dass sie eindöste. Schließlich teilte sie sich das Bett mit einem Wahnsinnigen. Wenn er sie mit dazunahm, hatte er genau ein Dutzend Morde verübt.
Aber er meint es ernst, dachte sie. Das war um die Zeit, als der Himmel im Osten hell zu werden begann. Er hat gesagt, dass er mich liebt, und meinte es ernst. Und als ich versprochen habe, sein Geheimnis zu bewahren - darum geht’s nämlich, sein Geheimnis soll bewahrt werden -, hat er mir geglaubt. Wieso auch nicht? Ich hab es beinahe selbst geglaubt.
War es nicht vorstellbar, dass er sein Versprechen halten würde? Schließlich misslang es nicht allen Drogenabhängigen, clean zu werden. Und war es nicht möglich, sein Geheimnis vor den Kindern zu bewahren, wenn sie es schon nicht für sich behalten konnte?
Das kann ich nicht. Das will ich nicht. Aber welche Wahl bleibt mir denn?
Welche gottverdammte Wahl?
Während sie über diese Frage nachdachte, gab ihr verwirrter, übermüdeter Verstand endlich auf, und sie schlief ein.
Sie träumte davon, ins Esszimmer zu kommen, in dem auf dem langen Ethan-Allen-Tisch eine Frau angekettet war. Die Frau war bis auf eine schwarze Lederkapuze, die ihre obere Kopfhälfte bedeckte, nackt. Ich kenne diese Frau nicht, diese Frau ist eine Fremde, dachte sie im Traum, und dann fragte Petra unter der Kapuze hervor: »Mama, bist du’s?«
Darcy wollte schreien, aber in Albträumen kann man das manchmal nicht.
11
Als sie mühsam zu sich kam - mit Kopfschmerzen, elend, irgendwie verkatert -, war die andere Betthälfte leer. Bob hatte seinen Wecker wieder umgedreht, und sie sah, dass es Viertel nach zehn war. So lange hatte sie seit Jahren nicht mehr geschlafen, aber sie war natürlich auch erst in der Dämmerung eingedöst, und ihr unruhiger, oft unterbrochener Schlaf war mit Schrecken bevölkert gewesen.
Sie ging auf die Toilette, nahm ihren Hausmantel vom Haken an der Badezimmertür und putzte sich dann die Zähne. Sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Wie der Boden eines Vogelkäfigs, hatte Bob an den seltenen Morgen gesagt, nachdem er beim Abendessen ein zusätzliches Glas Wein oder bei einem Baseballspiel eine zweite Flasche Bier getrunken hatte. Sie spuckte aus, wollte ihre Zahnbürste schon ins Glas zurückstellen, erstarrte in der Bewegung und betrachtete ihr Spiegelbild. Heute Morgen sah sie eine Frau in mittleren Jahren, die alt aussah: fahle Haut, tiefe Falten auf beiden Seiten des Mundes, dunkle Ringe unter den Augen, das völlig zerzauste Haar, das man nur bekam, wenn man sich ruhelos im Bett wälzte. Aber das alles interessierte sie nur am Rande; ihr Aussehen beschäftigte sie am wenigsten. Sie spähte über die Schulter ihres Spiegelbilds und durch die offene Badezimmertür in ihr Schlafzimmer. Nur war es nicht ihr eigenes; es war das Dunklere Schlafzimmer. Sie konnte seine Pantoffeln sehen, die aber nicht seine waren. Sie waren eindeutig zu groß für Bob, fast die eines Riesen. Und das Doppelbett mit den verknitterten
Darcy beugte sich nach vorn, bis sie mit der Nasenspitze das Glas berührte. Sie hielt den Atem an und legte beide Hände seitlich ans Gesicht, wie sie es als Mädchen in grasfleckigen Shorts und rutschenden weißen Socken getan hatte. Sie sah in den Spiegel, bis sie die Luft nicht länger anhalten konnte, und atmete schließlich prustend aus, so dass der Spiegel beschlug. Sie wischte ihn mit einem Handtuch ab und ging dann unten, um sich ihrem ersten Tag als Frau des Ungeheuers zu stellen.
Er hatte eine Nachricht für sie unter die Zuckerdose geklemmt.
Darce,
ich werde die Dokumente beseitigen, wie
Du’s verlangt hast. Ich liebe Dich, Schatz.
Bob
Um seinen Namen hatte er ein kleines Valentinsherz gemalt, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie fühlte eine Woge der Liebe für ihn, sämig und süßlich wie der Duft verwelkender Blumen. Sie hätte am liebsten wie die Klageweiber des Alten Testaments laut geschrien, erstickte diesen Laut aber mit einer Serviette. Der Kühlschrank schaltete sich ein und begann sein herzloses Summen. Wasser tropfte in den Ausguss und zählte die Sekunden auf Geschirr platschend ab. Ihre Zunge füllte ihren Mund wie ein mit Essig getränkter Schwamm aus. Sie spürte, wie die Zeit -
Der Kühlschrank summte, das Wasser tropfte in den Ausguss, und die grausamen ersten Sekunden verstrichen. Dies war das Dunklere Leben, in dem jede Wahrheit rückwärts geschrieben wurde.
12
In den Jahren, in denen Donnie im Cavendish Hardware Team Baseball gespielt hatte, hatte ihr Mann auch die Little League trainiert (ebenfalls mit Vinnie Eschler, diesem Meister polnischer Witze und bärenhaft tollpatschiger Umarmungen), und Darcy wusste noch gut, was Bob zu den Jungen - von denen viele weinten - gesagt hatte, nachdem sie das Endspiel des Jahresturniers im Bezirk 19 verloren hatten. Das musste 1997 gewesen sein, wahrscheinlich nur einen Monat bevor er Stacey Moore ermordete und sie mit dem Kopf voraus in ihren eigenen Maiskasten stopfte. Seine Ansprache vor dieser Horde enttäuscht schniefender Jungen war kurz, klug und (das hatte sie damals gefunden und dachte es heute noch) unglaublich gütig gewesen.