»Bitte etwas langsamer, Ma’am«, sagte die Frau in der Zentrale. »Ich kann Sie kaum verstehen.«
Gut, dachte Darcy.
Sie räusperte sich. »Ist es so besser? Verstehen Sie mich jetzt?«
»Ja, Ma’am, jetzt ist es besser. Nur nicht aufregen. Sie brauchen einen Krankenwagen, haben Sie gesagt?«
»Ja, in der 24 Sugar Mill Lane.«
»Sind Sie verletzt, Mrs. Anderson?«
»Nicht ich, mein Mann. Er ist die Treppe runtergefallen. Vielleicht ist er nur bewusstlos, aber ich befürchte, dass er tot ist.«
Die Frau versprach ihr, sofort einen Krankenwagen zu schicken. Darcy vermutete, dass sie auch einen Streifenwagen aus Yarmouth schicken würde. Und einen der State Police, falls zufällig einer in der Nähe war. Sie hoffte, dass das nicht der Fall war. Sie ging in die Diele zurück und setzte sich auf die dort stehende Bank - aber nicht für lange. Wegen seiner Augen, die sie ansahen. Sie beschuldigten.
Sie nahm sein Sportsakko vom Garderobenständer, wickelte es um sich und ging in die Einfahrt hinaus, um auf den Krankenwagen zu warten.
17
Der Polizeibeamte, der ihre Aussage zu Protokoll nahm, war Harold Shrewsbury, ein Einheimischer. Darcy kannte ihn nicht persönlich, aber zufällig seine Frau: Arlene Shrewsbury war in ihrem Strickkreis. Er sprach in der Küche mit ihr, während das Notarztteam Bob erst untersuchte und dann abtransportierte, ohne sich bewusst zu sein, dass in seinem Inneren noch eine zweite Leiche steckte. Die eines Kerls, der weit gefährlicher gewesen war als Robert Anderson, vereidigter Wirtschaftsprüfer.
»Möchten Sie einen Kaffee, Officer Shrewsbury? Das macht keine Mühe.«
Er betrachtete ihre zitternden Hände und erbot sich, Kaffee für sie beide zu kochen. »Ich kenne mich mit allem Küchenkram aus.«
»Das hat Arlene nie erwähnt«, sagte sie, als er aufstand. Sein Notizbuch blieb aufgeschlagen auf dem Küchentisch liegen. Bisher hatte er außer ihrem Namen, Bobs Namen und ihrer Telefonnummer nichts hineingeschrieben. Das hielt sie für ein gutes Zeichen.
»Nein, sie stellt mein Licht gern unter den Scheffel«, sagte er. »Mrs. Anderson - Darcy -, ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen und bin mir sicher, das auch in Arlenes Namen zu tun.«
Darcy begann wieder zu weinen. Officer Shrewsbury riss mehrere Papierhandtücher von der Rolle und gab sie ihr. »Haltbarer als Kleenex.«
»Darin haben Sie wohl Erfahrung«, sagte sie.
Er sah in der Bunn-Kaffeemaschine nach, stellte fest, dass Pulver eingefüllt war, und schaltete das Gerät ein. »Mehr als mir lieb ist.« Er kam zurück und setzte sich. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist? Stehen Sie das durch?«
Sie erzählte ihm, wie Bob im Wechselgeld aus dem Subway einen Weizen-Penny mit dem Doppeldatum gefunden hatte und wie aufgeregt er darüber gewesen war. Von ihrem Dinner zur Feier des Tages im Pearl of the Shore und dass er zu viel getrunken hatte. Wie er den Clown gespielt hatte (sie erwähnte den komischen britischen Gruß, mit dem er ihre Bitte um ein Glas Perrier mit Limone quittiert hatte). Wie er das Glas feierlich wie ein Ober hoch haltend die Treppe heraufgekommen war. Wie er fast oben gewesen war, als er auf der vorletzten Stufe ausrutschte. Sie erzählte sogar, wie sie beinahe selbst auf einem der verstreuten Eiswürfel ausgerutscht sei, als sie zu ihm hinunterrannte.
Officer Shrewsbury kritzelte etwas in sein Notizbuch, klappte es zu und betrachtete sie ruhig. »Okay. Ich nehme Sie jetzt mit. Holen Sie Ihren Mantel.«
»Was? Wohin?«
Natürlich ins Gefängnis. Gehe nicht über Los, kassiere keine zweihundert Dollar, gehe direkt ins Gefängnis. Bob war mit fast einem Dutzend Morde davongekommen - und sie nicht mal mit einem einzigen (allerdings hatte er seine geplant, mit buchhalterischer Akribie geplant). Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, aber es würde sich zweifellos als etwas ganz Offensichtliches erweisen. Officer Shrewsbury würde es ihr auf der Fahrt zum Polizeirevier erzählen. Das würde dann wie das Schlusskapitel eines Romans von Elizabeth George sein.
»Zu mir nach Hause«, sagte er. »Sie übernachten heute bei Arlene und mir.«
Sie starrte ihn an. »Ich möchte nicht … ich kann nicht …«
»Doch, Sie können«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Arlene würde mich umbringen, wenn ich Sie hier allein zurückließe. Wollen Sie an meiner Ermordung schuld sein?«
Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und lächelte schwach. »Nein, lieber nicht. Aber … Officer Shrewsbury …«
»Harry.«
»Ich muss erst noch telefonieren. Meine Kinder … sie wissen es noch nicht.« Dieser Gedanke brachte erneut Tränen, für die sie das letzte Papierhandtuch verwendete. Wer hätte geahnt, dass jemand so viel weinen konnte? Bisher hatte sie ihren Kaffee nicht angerührt; jetzt trank sie ihn mit drei großen Schlucken halb aus, obwohl er noch heiß war.
»Ich denke, wir können uns ein paar Ferngespräche leisten«, sagte Harry Shrewsbury. »Und noch etwas. Haben Sie irgendwas, was Sie einnehmen können? Sie wissen schon, irgendwas Beruhigendes?«
»Nichts dergleichen«, flüsterte sie. »Nur Ambien.«
»Dann hat Arlene bestimmt eine Valium für Sie«, sagte er. »Am besten nehmen Sie mindestens eine halbe Stunde vor dem ersten stressigen Telefongespräch eine. Ich sage ihr nur kurz Bescheid, dass ich Sie mitbringe.«
Er zog erst eine Küchenschublade, dann eine weitere, dann eine dritte auf. Darcy spürte, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug, als er die vierte Schublade aufzog. Er nahm ein Geschirrtuch heraus und gab es ihr. »Haltbarer als Papierhandtücher.«
»Danke«, sagte sie. »Vielen Dank.«
»Wie lange waren Sie verheiratet, Mrs. Anderson?«
»Siebenundzwanzig Jahre«, sagte sie.
»Siebenundzwanzig«, wiederholte er staunend. »Gott, das tut mir so leid.«
»Mir auch«, sagte sie und vergrub das Gesicht in dem Geschirrtuch.
18
Robert Emory Anderson wurde zwei Tage später auf dem Friedhof von Yarmouth beigesetzt. Donnie und Petra saßen rechts und links neben ihrer Mutter, als der Geistliche über das Thema »Ein jegliches hat seine Zeit« predigte. Das Wetter war trüb und kalt; ein eisiger Wind bewegte die unbelaubten Äste der Friedhofsbäume. B, B&A hatte an diesem Tag geschlossen, und alle waren zur Beerdigung gekommen. Die Wirtschaftsprüfer in ihren schwarzen Mänteln drängten sich wie ein Krähenschwarm zusammen. Unter ihnen gab es keine Frauen. Das war Darcy bisher nie aufgefallen.
In ihren Augen standen Tränen, die sie in regelmäßigen Abständen mit dem Taschentuch in ihrer schwarz behandschuhten Wenn er nur keinen Speck ansetzt wie Bob, dachte sie. Und natürlich keine Frauen umbringt. Aber so etwas war bestimmt nicht vererbbar. Oder doch?
Bald würde alles vorüber sein. Donnie würde nur ein paar Tage bleiben - länger könne er die Werbeagentur in der Aufbauphase nicht allein lassen, wie er sagte. Er hoffte, das werde sie verstehen, und sie sagte, das verstehe sie natürlich. Petra wollte eine Woche bleiben und sagte, sie könne auch länger bleiben, wenn Darcy sie brauche. Darcy versicherte ihr, das sei lieb von ihr, und hoffte insgeheim, dass es bei höchstens fünf Tagen bleiben würde. Sie musste allein sein. Sie musste … nein, eigentlich nicht nachdenken, sondern wieder zu sich finden. Wieder ihren Platz auf der richtigen Seite des Spiegels einnehmen.