»Ah so!« Sie gingen langsam auf den hinteren Ausgang des Flugzeuges zu, Martino immer einen Schritt vor Rogers. »So werden auch Sie froh sein, mal wieder hier zu sein.«
Rogers war augenscheinlich nicht gerade begeistert.
»Es tut mir leid«, sagte Martino, »ich hatte tatsächlich für einen Augenblick vergessen, daß dies weder für Sie noch für mich eine Vergnügungsreise ist.«
Rogers antwortete nicht. Er folgte dem Mann zur Tür, wo die Stewardeß ihnen ihre Mäntel gab. In der gleichen Reihenfolge traten sie auf die Treppe. Rogers Augen waren auf der gleichen Höhe wie die blanke Kopfspitze des fremdartigen Mannes.
Mitten auf der Treppe drehte Martino sich um, wie um eine weitere gleichgültige Bemerkung zu machen.
In diesem Augenblick leuchtete das erste Blitzlicht auf, und Martino versuchte zurückzustürzen. Er stolperte gegen Rogers, drückte ihn nach hinten, ohne recht weiterzukommen, und krallte seine Finger in die Schultern seines Bewachers.
Auf dem Vorfeld, am Fuße der Treppe, stand eine Gruppe von Photoreportern und richtete ihre Kameras auf die tumultartige Szene. Martino hing so eng an Rogers, daß dieser dessen Speisewerkzeuge zusammenschlagen hören konnte.
Finchley war es im Augenblick des ersten Aufleuchtens gelungen, an den beiden vorbeizukommen, die Treppe hinunterzustürzen und seinen Ausweis in das grelle Licht zu halten. Sekunden später hatte das Photographieren aufgehört.
Rogers holte einmal tief Luft und löste die verkrampften Hände des Mannes von seinen Schultern. »Es ist alles vorbei« — er sprach betont freundlich und milde. »Hören Sie, Martino, es ist alles in Ordnung. Der Pilot muß eine Meldung über uns abgesetzt haben, sonst hätte es niemand wissen können. Finchley wird mit den Zeitungsleuten reden; sie brauchen keine Angst zu haben, daß man Sie in der ganzen Welt breittritt.«
Martino stand wieder auf seinen Füßen und ging, etwas unsicher noch, die Treppe hinunter. Er brummte etwas vor sich hin, das entweder ein Dank oder eine Entschuldigung hätte sein können. Rogers war froh, daß er das Gemurmel überhören konnte.
»Sie können sich auf uns verlassen, wir werden die Zeitungsangelegenheit zufriedenstellend lösen. Worüber Sie sich Gedanken machen können, ist, wie Sie mit den Leuten fertig werden, denen Sie in Ihrem privaten Kreis begegnen. Aber soweit ich es gesehen habe, machen Sie das recht gut.«
Martino sah mit wilden Augen auf Rogers. »Ich sage Ihnen nur, beobachten Sie mich nicht zu genau!«
Am Nachmittag des Ankunfttages stand Rogers bereits im Büro seiner Dienststelle vor einer Gruppe von zweiundzwanzig Beamten und gab Erläuterungen über den »Fall Martino«. Von Zeit zu Zeit rieb er seine Schultern. Die Männer vor ihm waren ihm zugeteilt worden und schrieben eifrig jeden Hinweis auf, den er ihnen gab.
»Meine Herren«, sagte er, und seine Stimme klang müde. »Vor Ihnen liegt eine Photokopie der Akte »Martino«. Sie ist soweit vollständig, aber zugleich auch nur ein Anfang. Jeder von Ihnen bekommt gleich seinen Auftrag zugeteilt. Zunächst möchte ich Sie damit bekanntmachen, was wir als Arbeitsgemeinschaft vorhaben. Und ich darf Ihnen gleich jetzt sagen, daß selbst Dinge, die nebensächlich erscheinen, beim Betrachten des Gesamtbildes von außerordentlicher Bedeutung sein können.
Was wir suchen, ist ein Diagramm dieses Mannes, das alle Einzelheiten bis zur kleinsten Kappilare …« — er spitzte seine Lippen — »sagen wir ruhig, bis zur kleinsten Niete enthält. Aus Ihren Einzelberichten werden wir ein Bild zusammenfügen, das sein ganzes Leben umreißt; von seiner Geburt bis zu dem Tage, an dem das Laboratorium in die Luft flog. Wir müssen wissen, was er gerne aß, welche Zigaretten er rauchte, welche Laster er hatte, mit welchen Frauen er verkehrte. Wir müssen Auskunft haben über die Bücher, die er las, und worüber er mit ihnen übereinstimmte. Jeder von Ihnen wird diesen Mann studieren, jeder wird versuchen, seine Gedanken zu lesen; denn seine Gedanken sind das einzige, woran wir ihn erkennen können.
Einige von Ihnen werden abgestellt, ihn direkt zu überwachen. Ihre Berichte werden wir mit den Forschungsergebnissen vergleichen. Bedenken Sie, daß die einen genau so detailliert sein müssen wie die anderen. Vergessen Sie nicht, er weiß, daß er beobachtet wird. Er wird vielleicht versuchen, Sie irre zu leiten. Achten Sie auf die kleinen Dinge. Schreiben Sie auf, mit wem er spricht, aber übersehen Sie nicht die Art, wie er seine Zigaretten anzündet.
Denken Sie ferner immer daran, daß Sie es mit einem Genie zu tun haben. Ganz gleich, ob er Martino ist oder ein sowjetischer Agent, er ist raffinierter als wir. Auf der anderen Seite sind wir in der Überzahl und haben ein System hinter uns. Natürlich« — Rogers hörte, wie verzweifelt seine Stimme klang — »kann auch er ein System hinter sich haben, aber in jedem Fall ist er allein.
Was seine Aufgabe als Agent sein könnte, wissen wir nicht. Aber es kann alles Mögliche sein. Wenn sie erwartet haben, daß wir ihn an seine alte Arbeit zurückstellen, haben sie Pech gehabt. Es besteht also die Gefahr, daß er versuchen wird, aus der Alliierten Sphäre herauszukommen. Sie müssen darauf aufpassen. Auf der anderen Seite können sie gerade das gewollt haben, was wir jetzt mit ihm machen. Wenn das stimmt, weiß niemand, wieviel Kaninchen er noch aus seinem Hut hervorzaubert. Wir sind sicher, daß er keine menschliche Bombe ist oder sonst irgendwie den Tod in sich herumträgt. Aber man kann nie wissen. Geben Sie besonders auf ihn acht, wenn er versuchen sollte, elektronische Geräte zu kaufen.
Diejenigen von Ihnen, die seine Vorgeschichte ausbuddeln werden, haben nicht zuletzt herauszubekommen, ob er jemals versucht hat, irgend etwas in seinem Keller zusammenzubasteln. Wenn ja, so will ich es sofort wissen. Ich weiß nicht, was dieses K-88 ist, aber ich weiß, daß es eine verdammt harte Sache sein soll. Ich glaube, daß wir alle froh sein werden, wenn er es unterläßt, weiter in dieser Richtung zu Hause zu basteln.«
Rogers seufzte. »Irgendwelche Fragen?«
Einer der Männer hob seine Hand.
»Wie sieht das andere Ende dieser Geschichte aus? Ich nehme an, daß man in Europa versuchen wird, Leute in den Osten zu schmuggeln, um herauszufinden, wer und wie man diesen Mann zusammengebaut hat.«
»Das stimmt. Man tut es, um keinen Versuch zu unterlassen, aber man erreicht nichts. Die Sowjets haben einen Kerl, der heißt Azarin. Der ist eine Mauer. Wer an ihm vorbeikommt, hat mehr als Glück gehabt. Ich kann mir denken, daß jeder der etwas mit unserem Opfer zu tun gehabt hat, inzwischen in Uzbekistan ist und daß alle Unterlagen vernichtet worden sind, wenn es überhaupt welche gegeben hat Und ich weiß noch etwas. Einige unserer Leute waren mit einem solchen Auftrag versehen worden. Sie sind bereits drüben. Andere Fragen?«
»Ja. Wie lange glauben Sie, Herr Rogers, wird es dauern, bis wir sagen können, wer dieser Mann ist?«
Rogers sah den Mann nur mit großen Augen an.
Rogers saß allein in seinem Arbeitszimmer, als Finchley eintrat. Es wurde bereits dunkel draußen, und die Lampe auf dem Schreibtisch erhellte nur ihre nächste Umgebung. Finchley zog einen Stuhl heran und wartete, bis Rogers seine Brille zusammengeklappt hatte.
»Wie sind Sie zurechtgekommen?« fragte Rogers.
»Ich habe sie alle hingebogen: Presse, Wochenschau und Fernsehen. Man wird ihn nicht publizieren.«
Rogers nickte. »Gut. Wenn er zu einem siebenten Weltwunder geworden wäre, hätten wir unsere letzte Chance verpaßt. Es wird ohnehin hart genug werden. Ich danke Ihnen. Finchley.«
»Ich bin überzeugt, daß auch er keinen Spaß daran gehabt hätte.«
Rogers sah ihn an, sagte jedoch nicht, was er gerade gedacht hatte. »So, die Nachrichtenleute glauben also, daß es sich hier um eine Angelegenheit handelt, die über den amerikanischen Sicherheitsdienst nicht hinausgeht?«