Lucas war erschrocken und erkannte sogleich, daß sie weit von dem Typ Mädchen entfernt war, das er hätte leiden mögen. Er sah, daß die Zeichnung, die sie anfertigte, fast leblos war. Es war eine naturalistische Löwin, die aussah, als habe man sie ausgestopft und in ein Schaufenster gesteckt.
Eine Wutwelle gegen sie, ihr Aussehen und ihr Hiersein erfaßte ihn. »Nein, ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal gesehen haben«, sagte er und drehte sich um, um fortzugehen.
»Vielleicht doch. Mein Name ist Edith Chester. Und ihrer?«
Er hielt inne. Ihre Stimme war weich und fraulich. Und die Tatsache allein, daß sie ihm ruhig geantwortet hatte, gab ihm das Gefühl, etwas ganz Dummes gemacht zu haben. »Luke«, sagte er und zuckte dabei mit den Schultern.
»Sie sind sicher auch auf der Kunsthochschule?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Er sah, daß sie noch etwas sagen wollte und fiel ihr, ohne zu überlegen, ins Wort. »Wie ich Ihnen schon einmal gesagt habe, ich habe Sie noch nie gesehen. Ich dachte nur —« Weiter kam er nicht. Er hatte mehr denn je den Eindruck, ein Narr zu sein.
Sie lachte; es klang ein wenig nervös. »Das macht doch nichts; ich bin überzeugt, daß Sie mir nicht den Kopf abbeißen.«
Lucas wußte nicht, was er jetzt sagen sollte; er sah auf den Zeichenblock. »Nicht gerade eine hundertprozentige Löwin.«
Auch sie sah auf die Zeichnung. »Hm. Ich glaube, Sie haben recht.«
Er hatte versucht, sie zu reizen; er hatte gehofft, sie beleidigen zu können, so daß er im Streit von ihr weggehen konnte. Jetzt sah er sich plötzlich tiefer als zuvor mit ihr verwickelt. »Hören Sie — ich wollte ins Kino gehen. Haben Sie Lust mitzukommen?«
»Ja.« Wieder saß er in der Falle.
»Ich dachte daran, mir die ›Königin von Ägypten‹ anzusehen.« Er glaubte mit diesem Film etwas genannt zu haben, was einem Menschen, der vorgibt, intelligent zu sein, niemals einfallen würde.
»Den Film habe ich noch nicht gesehen«, sagte sie. »Ich habe nichts dagegen.« Sie steckte den Zeichenstift in ihre Handtasche, nahm den Block unter ihren Arm und faltete den Klappstuhl zusammen. »Wir können die Sachen in der Schule lassen«, bemerkte sie. »Würden Sie meinen Stuhl tragen, es ist nur etwa fünfhundert Meter weit?«
Er nahm den Stuhl, ohne ein Wort zu sagen. Als sie an dem Zoocafe vorbeikamen, sah Lucas zu der Terrasse hinüber. Die Frau an seinem Nebentisch war nicht mehr da.
Vor der Kunsthochschule wartete er, bis sie herauskam. Er rauchte und versuchte zu überlegen, was er nun weiter tun sollte. Er dachte daran, einfach um die Ecke davonzulaufen. In seiner Tasche fühlte er bereits das fünfundzwanzig Centstück, das er für den Bus benötigte. Aber war Edith nicht ein Mädchen, für das sich nur wenige junge Männer interessierten? Wenn er jetzt wegging, würde er ihr sehr weh tun. Und es war ja schließlich nicht ihre Schuld, daß alles so gekommen war. Nein, er mußte jetzt weitermachen.
Lucas begann, sich schuldig zu fühlen. Als sie heraustrat, wagte er kaum, sie anzuschauen; trotzdem übersah er nicht den erlösenden Ausdruck im Gesicht des Mädchens. Auch sie hatte bemerkt, daß sie wider ihren Willen gelächelt hatte. Schnell verbannte sie ihre Freude aus dem Gesicht und tat so, als habe sie es für selbstverständlich gehalten, daß er auf sie wartete.
»Ich bin bereit.« Wieder überfiel Lucas maßloser Ärger. Sie war viel zu durchsichtig, und er verachtete sie, daß sie sich noch nicht einmal Mühe gab, ihre Freude über sein Dasein wenigstens etwas zu verbergen. Er wollte jemanden mit Tiefe, jemanden, den man erst mit der Zeit erkennen konnte. Jemanden, den man nie ganz erforschte und der immer interessant und aufregend war. Stattdessen hatte er Edith Chester.
Aber es war alles durch ihn selbst gekommen. Sie konnte nichts dafür.
»Wollen Sie wirklich dieses idiotische Ägypterding da sehen?« Mit dem Kopf nickte er über die Straße, wo einige der teuren Kinotheater waren, in denen man europäische Spitzenfilme zeigte. »Was halten Sie davon, wenn wir dort hineingingen?«
»Wenn Sie wollen, ich möchte es gern.«
Sie war offensichtlich bereit, ihm dahin zu folgen, wo immer er auch hinging.
Während er die Karten kaufte, wartete sie im Foyer. Später saß sie still neben ihm. Er dachte nicht daran, ihre Hand zu halten oder seinen Arm auf ihre Rückenlehne zu legen. Es wurde ihm entsetzlich heiß, als ihm plötzlich einfiel, daß es nach der Vorstellung noch zu früh sein würde, sie nach Hause zu bringen, während es auf der anderen Seite schon zu spät war, sie einfach irgendwo zu verabschieden. Er war versucht, sich jetzt im Schutz der Dunkelheit zu entfernen. Irgendwie schien ihm diese Lösung trotz ihrer Schwerfälligkeit und Gemeinheit die beste. Aber er verwarf diese Idee sofort wieder.
Aber warum eigentlich nicht? Bin ich so wunderbar, daß ich ihr ganzes Leben zunichte machen würde?
Er dachte daran, daß es gar nicht auf ihn ankam, sondern auf sie. Selbst wenn er der bucklige Glöckner von Notre Dame gewesen wäre, hätte die gleiche Situation bestanden. Er hatte sie hineingezogen, und es war jetzt seine Aufgabe, sie unverletzt wieder herauszuholen.
Aber, was zum Teufel, konnte er mit ihr anfangen, wenn der Film vorbei war? Nervös steckte er sich eine Zigarette nach der anderen an. Als die gleiche Stelle auf der Leinwand erschien, die sie zu Anfang gesehen hatten, beugte sie sich zu ihm und sagte: »Wollen wir jetzt gehen?«
Nach neunzig Minuten Schweigen überraschte ihn ihre Stimme. Sie war noch genau so mild wie vorhin, als sie das erste Mal zu ihm sprach.
»Einverstanden.« Er stand nur zögernd auf, denn er wußte, daß auf der Straße das peinliche, aber unvermeidliche »Und was machen wir jetzt?« fallen würde.
Draußen sagte sie: »Der Film war gut, finden Sie nicht?«
Er hatte die Frage bewußt überhört; er sah beschäftigt aus und sog aufgeregt an seiner Zigarette. Dann sagte er: »Erwartet man Sie jetzt zu Hause?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich wohne allein. Aber Sie haben sicher noch etwas vor heute abend. Ich werde einen Bus nehmen und nach Hause fahren. Ich danke Ihnen, daß Sie mich mit ins Kino genommen haben.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte er schnell. Sie hatte also damit gerechnet, daß er versuchen würde, sich ihrer zu entledigen. »Nein, fahren Sie noch nicht!« Jetzt mußte er etwas vorschlagen, ganz gleich was. »Übrigens; haben Sie Hunger?«
»Ein wenig.«
»Gut. Sehen wir also zu, daß wir ein Restaurant finden.«
»Ich kenne ein kleines, wenige Schritte von hier um die Ecke.«
»Prima.« Ohne recht zu wissen, warum, ergriff er ihre Hand. Sie war klein, aber nicht zerbrechlich. Es schien Lucas, als sei sie weder überrascht noch schockiert.
Das Restaurant war noch fast leer. Der Kellner führte sie an einen kleinen Tisch zwischen zwei Sperrholztrennwänden. Im gleichen Augenblick, als sie sich hinsetzten, wurde es Lucas klar, wie dumm dieser Platz war. Der Kellner hatte sie in eine Sackgasse geführt, wo ihnen nichts anderes übrigblieb, als sich gegenüber zu sitzen und sich anzustarren während sie auf ihr Essen warteten. Wenn er ihre Haartracht und ihren violetten, metallfarbenen Nagellack besah, konnte er sich nicht vorstellen, daß sie etwas Interessantes zu erzählen hatte.
»Sind Sie schon lange in New York?« fragte er.
»Nein.«
Damit war das Thema erschöpft.
Lucas sah verstohlen auf seine Uhr. Es war erst sechs. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an.
»Könnte ich wohl eine Zigarette haben?« In ihrer Stimme lag Unsicherheit.
»Hm?« Umständlich kramte er das Paket wieder aus der Tasche. »Edith, es tut mir leid. Natürlich — bitte sehr! Ich wußte gar nicht —« Was wußte er nicht? Wußte er nicht einmal, daß es zu den primitivsten Anstandsregeln gehörte, jemanden eine Zigarette anzubieten, besonders wenn man selbst rauchte? Er fühlte sich zutiefst schuldig und verlegen. Er hatte sie bis jetzt behandelt, als sei sie ein Straßenhund.