Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel, und er reichte ihr hastig Feuer.
Sie bemühte sich, ein Lächeln hervorzubringen. »Danke. Ich komme aus Connecticut. Wo sind Sie her, Luke?«
Sie muß die ganze Zeit über gewußt haben, was ich von ihr halte, schoß es ihm durch den Kopf. Aber warum hat sie es mitgemacht? Warum? Weil ich der Mann ihrer Träume bin?
»Aus New Jersey«, sagte er, »von einer Farm.«
»Ich habe schon immer gewünscht auf einer Farm leben zu können. Was machen Sie hier in New York? Arbeiten Sie?«
Vielleicht bin ich der erste Mann, der sie angesprochen hat, seitdem sie hier angekommen ist. Ja, das ist sehr wahrscheinlich der Grund, weshalb sie bis jetzt durchgehalten hat. Ich bin zwar nicht viel, aber immerhin etwas.
»Im Augenblick arbeite ich in einem Espresso Cafe in Greenwich Village.«
Er erkannte, daß er begonnen hatte, Dinge zu erzählen, die er überhaupt nicht hatte preisgeben wollen. Aber er hatte auf einmal das Bedürfnis zu erzählen, außerdem war die ganze Sache ohnehin schon verfahren.
»Ich war noch nicht oft da unten«, sagte sie. »Ich denke, es muß rasend interessant sein.«
»Ist es auch in der einen oder anderen Hinsicht. Aber ich werde im nächsten Jahr auf die Universität gehen und bereite mich jetzt schon darauf vor. Ich habe also nicht viel Zeit mir die Gegend anzusehen.«
»Hm! Was werden Sie studieren, Luke?«
Und dann erzählte er alles, sein ganzes Leben, von der Farm, der Schule und dem Espresso Maggiore.
Nach einem kurzen Spaziergang durch den Park war es Zeit, sie nach Hause zu bringen. Sie wohnte im dritten Stock eines Wohnblocks in der Nähe der Gaswerke auf der Höhe der sechzigsten Straße. Er begleitete sie bis an ihre Wohnungstür. Plötzlich hatte er nichts mehr zu erzählen.
Er blieb stehen, genauso abrupt wie er alles begonnen hatte. Er versuchte zu überlegen, wie alles gekommen war und vor allem, welcher Teufel in ihn gefahren sein konnte. Er sah, daß ihre Haaransätze dunkel schimmerten.
»Ich habe Sie die ganze Zeit über gelangweilt«, sagte er verlegen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sind ein interessanter Mensch. Es hat mir Spaß gemacht. Wissen Sie, es ist —« Sie sah ihn mit großen Augen an und ließ auch die letzten Vorwände einer oberflächlichen Gleichgültigkeit fallen, die sie während des Nachmittags und Abends hatte aufrechterhalten. »Wissen Sie, es ist gut, jemanden zu haben, der zu mir spricht.«
Er konnte dazu nichts sagen. Sie standen vor der Eingangstür der Wohnung und schwiegen.
»Ich habe einen sehr schönen Tag verbracht«, sagte sie nach einer Weile.
O nein, du machst dir selbst etwas vor. Dies war der miserabelste Tag deines Lebens, und wenn ich jetzt diese Treppe hinuntergehe, um nie mehr wiederzukommen, wird es noch schlimmer sein. Plötzlich fragte er: »Haben Sie Telefon?«
Sie nickte. »Ja. Möchten Sie die Nummer wissen?«
»Ich werde sie mir aufschreiben.« Er fand ein Stück Papier in seiner Tasche, schrieb die Nummer auf, steckte Bleistift und Papier wieder ein und stand wie vorher wortlos vor ihr.
»Montag ist mein freier Tag«, sagte er, »ich werde Sie anrufen.«
Er sah sie von oben bis unten an.
Nein! Unter keinen Umständen werde ich ihr einen Gute-Nacht-Kuß geben. Die ganze Sache ist total verrückt.
»Gute Nacht, Edith.«
»Gute Nacht, Luke.«
Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Dabei hatte er das Gefühl, ein äußerst dummes Gesicht zu machen. Sie legte ihren Kopf etwas zur Seite und berührte mit ihrer Wange Lucas Hand. In diesem Augenblick wandte er sich ab, lief die Treppe hinunter und hatte den Eindruck, alles andere zu sein, aber kein achtzehnjähriger junger Mann.
Während des ganzen nächsten Tages war Lucas so verwirrt, daß er kaum sah, was er tat. Er mußte immer an sein Erlebnis vom Vortage denken, aber so sehr er sich auch bemühte, Klarheit zu bekommen, es wollte ihm nicht gelingen. Jedesmal wenn er in die Nähe von Barbara kam, senkte er die Augen und versuchte, einem Gespräch mit ihr aus dem Wege zu gehen.
Am Nachmittag erwischte sie ihn dann. Er stand ausweglos zwischen der Espressomaschine und der vollautomatischen Kasse. In der Hand hielt er eine leere Tasse.
Barbara lächelte ihn an und sagte: »Na, Tedesco, denkst du an dein Geld?« Sie kniff die Augen zusammen und sah ihn aus schmalen Lidern an.
»Geld?«
»Nun ja — man sagt halt, wenn jemand mit abwesendem Ausdruck herumläuft, daß er an sein Geld denkt.«
»O nein, ich denke nicht an Geld.«
»Was hast du denn gestern gemacht? Hast du dich verliebt?«
Er spürte sein Gesicht heiß werden. Fast wäre die Tasse aus seiner Hand gefallen, als ob er ein Automat sei und Barbara den richtigen Knopf gedrückt hätte. Er stand mit offenem Mund da, überrascht über seine Reaktion auf dieses Wort.
»Sieh da«, sagte Barbara, »ich habe den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Lucas wußte beim besten Willen nicht, was er sagen sollte. Sich verliebt? Auf keinen Fall! »Hör’ zu, Barbara, es ist nicht so.«
»Nicht so?« Sie war über und über rot geworden…
»Ich weiß nicht. Ich versuchte es dir ja gerade zu erklären —«
»Sei still. Es interessiert mich überhaupt nicht, wie es ist. Wenn du Schwierigkeiten hast, sieh’ zu, wie du wieder rauskommst. Auch ich habe einen Freund, der mir manchmal Schwierigkeiten macht.«
Sie dachte darüber nach und fand, daß sie ehrlich gewesen war. Sie erinnerte sich daran, daß Tommy ein netter Junge war und nicht ganz uninteressant. Trotzdem war es schade, daß Lucas sie nie richtig gesehen hatte.
Sie war ein praktisches Mädchen und verschwendete selten nutzlose Gedanken auf ein verlorenes Paradies. Sie hatte sich damit abgefunden, daß es zwischen ihnen ohnehin nur zu ein paar oberflächlichen Verabredungen gekommen wäre.
»In ein paar Minuten beginnt der Nachmittagssturm«, sagte sie spitz, nahm den großen Zuckersack und ging, um die kleinen Schälchen auf den Tischen nachzufüllen.
Lucas stand bewegungslos hinter der Theke. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Alles geschah zu schnell.
Er sah zu Barbara hinüber und erkannte, daß für sie die Angelegenheit abgeschlossen war. Nicht aber für ihn. Sie hatte kaum begonnen. Er würde die letzten vierundzwanzig Stunden genau analysieren, müssen. Er würde jede Kleinigkeit rekonstruieren müssen, die zu dem Ergebnis geführt hatte, das jetzt vorlag. Gestern morgen noch war er ein Mensch gewesen, der einen festen, auf dem Grund der Gegebenheiten fußenden Plan gehabt hatte.
Innerhalb einer außerordentlich kurzen Zeit hatte sich alles geändert, und niemand, ganz besonders nicht Lucas, konnte es dabei bewenden lassen. Auf der anderen Seite hatte Barbara die neue Situation bedingungslos angenommen.
Immerhin, so fand Lucas, war die ganze Sache nicht so uninteressant, um nicht darüber nachzudenken.
Ganz besonders interessant fand er, daß so viele Leute, denen er begegnet war, einen neuen Zustand in seiner Gesamtheit sofort akzeptierten, ohne ihn zu prüfen, zu analysieren und damit viel Zeit auf ihn zu verlieren. Die Tatsache, daß es so viele Menschen waren, deutete darauf hin, daß es etwas Gutes sein könnte, so zu handeln. Immerhin war es zweckmäßiger, weniger aufreibend und direkter.
Er schloß daraus, daß er bisher völlig falsch unter den Menschen gelebt hatte. Es war also nicht überraschend, daß er in dieses Gefühlslabyrinth mit Barbara und Edith gerutscht war.
Damit hatte er eine Erkenntnis und konnte sich den anderen Problemen zuwenden. Was, so fragte er sich, empfand er für Edith? Er konnte sie nicht einfach übersehen. Er hatte sie nach ihrer Telefonnummer gefragt, und er wußte, daß sie auf einen Anruf wartete. Hier hatte er eine Verantwortung.