Als er die Tür aufgehen hörte, schaute er über seine Zeitung in die Metallwand eines Ausstellungskastens, der ihm als Spiegel diente. Die Spiegelfläche war etwas beschlagen und schmutzig. Der Verkäufer konnte die vagen Umrisse eines Mannes erkennen. Er versuchte sein Gesicht zu sehen und hielt seine Hand an den Oberrand seiner Brille. Dabei beugte er sich ein wenig vor.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er automatisch.
Der Mann vor ihm, dessen glitzerndes Gesicht das Licht des Raumes eigenartig widerspiegelte, sagte mit ruhiger Stimme: »Darf ich mal Ihr Telefonbuch einsehen?«
Der Drogist wußte nicht, was er zu einer anderen Zeit getan hätte. Aber die selbstverständliche Art dieses Mannes ließ ihn augenblicklich antworten: »Ja, natürlich. Gleich da drüben ist die Telefonzelle.«
»Danke.« Der Mann quetschte sich durch den schmalen Eingangsspalt in die Telefonzelle. Man konnte hören, wie er in dem dicken Telefonbuch blätterte und mit einem Klick seinen Bleistift aus der Brusttasche zog. Kurze Zeit danach trat er wieder in den Laden. Er faltete das Stück Papier, auf das er die gesuchte Nummer geschrieben hatte, und steckte es in seine Tasche. Als er an der Kasse vorbeikam, sagte er zu dem Verkäufer: »Recht vielen Dank und gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Dann verließ der Mann das Geschäft, und der Drogist vertiefte sich wieder in seine Zeitung.
Aber lesen konnte er nicht. Er mußte immer wieder an das eigentümliche Gesicht des Mannes denken. Komisch, dachte er, aber irgendwie schien der Mann nicht zu wissen, daß er außergewöhnlich aussieht. Sonst hätte er doch versucht, Erklärungen zu geben. Er tat jedoch nichts anderes, als eine ganz normale Frage zu stellen, wie sie normale Menschen zehn-, zwanzigmal am Tag vorbringen.
Es war also nichts, worüber man sich hätte aufregen können, sagte der Drogist zu sich, obwohl — aber der Mann selbst war doch augenscheinlich nicht beunruhigt über seinen Metallkopf, und es ist doch in erster Linie seine Angelegenheit.
Der Verkäufer beschloß, über die Sache später noch einmal nachzudenken. Das war etwas, um es seiner Frau zu erzählen, aber es war nichts, um in kopflose Panik zu verfallen. Mit diesem Gedanken fand er seine Konzentration wieder, und automatisch begannen seine Augen zu lesen. Als Rogers Agent eine Minute später in den Laden trat, durchlebte er gerade die spannenden Abenteuer eines Reporters am Nordpol.
Dieser Agent gehörte einer Gruppe von Zweien an. Sein Kollege war ihrem Opfer auf der Spur geblieben, während er in den Laden kam, um seine Nachforschungen zu treiben.
Es war ziemlich dunkel in dem Geschäft, und da er niemand sah, rief er: »Ist hier jemand?«
Der Drogist erschien hinter seiner Kasse. »Ja, mein Herr.«
Der Sicherheitsbeamte suchte in seiner Tasche und sagte: »Geben Sie mir ein Paket Chesterfield.«
Der Drogist nickte und holte ein Paket aus dem Ständer neben der Kasse. Dann nahm er den halben Dollar, den der Beamte auf die Theke gelegt hatte.
»Sagen Sie«, der Geheimpolizist legte seine Stirn in Falten, »habe ich richtig gesehen, daß eben ein Mann mit Blechmaske hier herauskam?«
Der Drogist nickte mit dem Kopf. »Das stimmt. Aber es sah nicht so aus, als wäre es eine Maske.«
»Hab’ ich mir doch gleich gedacht. Obwohl es schwer ist, es zu glauben, wenn man es sieht.«
Der Sicherheitsbeamte schüttelte den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie in dieser Gegend alle möglichen Typen sehen. Glauben Sie, daß er verkleidet war, um irgend etwas zu propagieren? Zum Beispiel ein Theaterstück?«
»Da fragen Sie mich zu viel. Ich habe ihn kein Plakat tragen sehen.«
»Was wollte er denn hier — Metallpolitur kaufen?« Der Beamte grinste.
»Nee, er hat nur nach dem Telefonbuch gefragt. Telefoniert hat er nicht.« Der Drogist kratzte sich den Kopf. »Ich nehme an, daß er eine Adresse gesucht hat.«
»Wen der wohl besuchen will! Übrigens, kann ich auch mal das Telefon benutzen?«
»Ja, natürlich. Gleich da drüben ist die Telefonzelle.«
»Vielen Dank.« Der Mann schob sich durch die Tür in die Zelle, besah sich genau den kleinen Raum und untersuchte den Schreibblock nach eingeprägten Schriftzügen. Er konnte welche erkennen, aber sie ergaben keinen Sinn. Als er die sechs dicken Telefonbücher sah, verwarf er sofort den Gedanken, eine Verbindung zwischen dem undeutlichen Schrifteindruck und einem möglichen Namen zu suchen. Er schloß die Tür hinter sich, steckte eine Münze in den Apparat und rief Rogers an.
Die Uhr auf Rogers Schreibtisch zeigte fünf Minuten nach Neun. Rogers und Finchley warteten auf den nächsten Bericht.
Rogers fühlte eine lähmende Müdigkeit in sich aufsteigen. Er war jetzt über zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen, und die Tatsache, daß Finchley und dieser Martino-Mann ebensolange aufgewesen waren, tröstete ihn nur wenig.
»Ich bin nicht sehr glücklich darüber, Finch, daß Sie solange aufsitzen«, sagte er.
Finchley sah ihn abwesend an. »Es ist unser Beruf, nicht wahr?« Er nahm das letzte Stück Kuchen, das vom Abendessen übriggeblieben war, steckte es in den Mund und spülte es mit einem Schluck kalten Kaffee hinunter. »Trotzdem hoffe ich, daß er uns nicht jede Nacht so lange aufhält.«
Rogers spielte mit dem Löschblatt; er hatte schon eine ganze Armee kleiner Männchen darauf gemalt. »Der nächste Bericht muß gleich eintreffen. Vielleicht hat er irgend etwas unternommen.«
»Ja. Vielleicht hat er sich im Park schlafen gelegt.«
»Dann wird er von der Polizei aufgefischt.«
»Und was geschieht dann? Was geschieht, wenn er sich eines Vergehens schuldig macht?«
»Dann wird die ganze Sache noch komplizierter.« Verzweiflung stand in Rogers Gesicht. »Das Polizeipräsidium ist informiert. Man hat uns Unterstützung zugesagt. Aber man hat davon abgesehen, alle Polizisten zu unterrichten, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Theoretisch heißt es, sollen die Polizisten ihr Revier anrufen, wenn sie einen Mann mit Metallkopf sehen. Dann wird ihnen gesagt, daß sie ihn in Ruhe lassen sollen. Wie es allerdings aussieht, wenn man ihn festnimmt, bevor man einen solchen Anruf macht, weiß ich nicht. In einem solchen Fall müßten wir alles tun, um ihn wieder auf freien Fuß zu setzen.« Rogers seufzte. »Die ganze Sache ist verrückt. In dieser Welt ist eben niemand darauf eingerichtet, einem gesichtslosen Mann zu begegnen.«
Rogers mußte an das Wort von Emerson denken: »Begehe ein Verbrechen, und du wirst sehen, daß die ganze Welt aus Glas besteht.«
Das Telefon schellte. Rogers griff nach dem Hörer.
»Gut«, sagte er, nachdem er eine Welle zugehört hatte. »Gehen Sie zu ihrem Kollegen zurück. Ich werde jemand schicken, der den Zettel abholt. Rufen Sie wieder an, wenn er irgendwo hingeht.« Er legte den Hörer auf. »Ich glaube, er hat etwas vor, Finchley. Er hat in einem Telefonbuch eine Adresse gesucht.«
»Können Sie sich denken, wessen Adresse?«
»Ich bin nicht sicher …« Rogers schlug die Martino-Akte auf.
»Das Mädchen«, sagte Finchley kurz, »das er vor Jahren gekannt hat.«
»Kann sein. Vorausgesetzt, daß er glaubt, daß sie ihm noch irgendeine Hilfe sein kann. Aber warum mußte er ihre Adresse suchen? Sie wohnt immer noch an der gleichen Stelle wie damals.«