»Das war vor fünfzehn Jahren, Shawn. Vielleicht hat er sie vergessen.«
»Oder hat sie niemals gewußt.« Außerdem war es nicht sicher, ob er sich jetzt an diese Adresse wenden würde. Vielleicht hatte er sie notiert, um sie später einmal zu verwenden. Vielleicht handelte es sich um eine ganz andere Adresse. Es war ganz klar, die Telefonbücher mußten untersucht werden. Möglicherweise gab es da irgendeinen Hinweis: einen fettigen Fingerabdruck, ein Bleistiftzeichen oder irgendeine andere Spur.
Aber sechs New Yorker Telefonbücher? Jedes mit mindestens dreitausend Seiten?
»Finch, Ihre Leute müssen mir einen Satz Telefonbücher besorgen, gebrauchte, wohlverstanden. Wir werden sie gegen einen anderen Satz austauschen, den ihr in euren Laboratorien untersuchen sollt. Ich muß die Bücher sofort haben.«
Finchley nickte und griff nach dem Telefon.
Ein junger Mann in abgetragenem Reiseanzug betrat den Drugstore an der Ecke Sechste Avenue West Siebente Straße. In seiner Hand hielt er einen alten Koffer aus Pappe.
»Kann ich mal telefonieren?« sagte er zu dem Drogisten.
Der Drogist zeigte ihm die Telefonzelle. Der junge Mann ging auf die schmale Tür zu und preßte sich und seinen Koffer mit Mühe in den kleinen Raum. Einige Augenblicke lang machte er einen dumpfen Lärm, stieß seinen Koffer hin und her und verärgerte auf diese Weise den Drogisten. Endlich wurde es ruhig, und man sah, daß der Mann telefonierte.
Als der Reisende das Geschäft verließ, befanden sich in seinem Koffer die ausgetauschten Telefonbücher, um im Laboratorium der Sicherheitspolizei untersucht zu werden, wo man bereits vergeblich versucht hatte, den eingeprägten Schriftzug auf dem Notizblock zu entziffern.
Das Buch für Manhattan wurde zuerst untersucht, da man annahm, daß er hierin am ehesten nachgesehen hatte. Die Techniker nahmen jede Seite unter die Lupe. Man hatte eine Liste, die nach den Adressen der Telefonteilnehmer aufgestellt war, und man begann damit, um den Drugstore ein abgegrenztes Viereck zu legen. Ein elektronisches Gehirn arrangierte die nächsten Adressen in alphabetischer Reihenfolge. Auf diese Art und Weise wurde eine große Anzahl Adressen übergangen, die nach der neuen, spezifischeren Aufstellung unwahrscheinlich waren.
Rogers hatte den Technikern nichts von Edith Chester gesagt. Bis sie etwas gefunden hatten, würde Martino schon längst bei ihr angekommen sein, wenn er überhaupt zu ihr ging. Und darüber hinaus war es noch nicht erwiesen, daß er nur eine Adresse aufgesucht hatte. Es blieb also nichts übrig, als alle sechs Bücher zu untersuchen.
Edith Chester Hayes lebte im zweiten Stock eines Hinterhauses in der Sullivan Straße. Der Ruß von achtzig Jahren lag auf jedem Stein, und giftige Industriedämpfe hatten die letzten Reste von Farbe vor langer Zeit abgebeizt. Der Durchgang zur Straße war schmal und schlecht beleuchtet. Vor dem Eingang standen einige zerbeulte Mülltonnen.
Rogers saß in einem Wagen des amerikanischen Sicherheitsdienstes und sah auf den Eingang des Hauses. »Man sollte nicht glauben, daß es in New York immer noch solche- Häuser gibt.«
»Man reißt sie ab«, sagte Finchley, »aber andere Häuser werden schneller alt, als man diese hier niederreißen kann.« Er hörte kaum, was er sagte; er war so vertieft in seine Gedanken, daß. er nicht bemerkte, wie einer der Beobachtungsagenten die Straße heraufkam und auf den Wagen zuschritt.
»Er ist im Treppenhaus im zweiten Stock, Herr Rogers«, sagte der Agent. »Seit fünfzehn Minuten steht er da oben. Er hat weder irgendwo angeklopft noch geschellt. Er steht nur da, gegen die Wand gelehnt.«
»Er hat also nirgendwo geschellt? Wie ist er denn in das Haus hineingekommen?«
»Die Leute schließen die Haustür nie ab. Jeder kann zu jeder Zeit in das Haus.«
»Wie lange, glauben Sie, kann er dort oben stehen, ohne gesehen zu werden? Wann schätzen Sie, wird jemand vorbeikommen und einen Heidenlärm vom Zaune brechen? Und vor allem, was hat er davon, wenn er nur da herumsteht?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer, Herr Rogers. Ist nicht alles, was er macht, vollkommen verrückt?«
Rogers beugte sich zu dem Techniker auf dem Vordersitz. Er trug Kopfhörer und lehnte über einem kleinen Empfangsgerät.
»Was macht er?«
Der Techniker gab ein Ohr frei und sah auf Rogers. »Soweit noch nichts. Ich höre seinen Atem und von Zeit zu Zeit, wie er mit den Füßen schabt.«
»Werden Sie ihn verfolgen können, wenn er hineingeht?«
»Solange er in einem kleinen Raum bleibt oder dicht an einer Wand steht, ja. Diese Induktionsmikrophone sind unerhört empfindlich. Ich habe es jetzt an einer Stufe im ersten Stock. Ich kann es ihm folgen lassen, wenn er hineingeht.«
»Und wenn er es sieht?«
»Er wird es nicht sehen, höchstens dann, wenn es sich bewegt. Wir wissen jedoch immer, wann er auf das Mikrophon sieht, denn dann steigt die Lautstärke momentan um ein Vielfaches. In einem solchen Augenblick halten wir es sofort an. Es sieht übrigens aus wie eine Streichholzschachtel und hat kleine Plastikrollen, auf denen es sich bewegt. Es ist vollständig geräuschlos, und die Drähte, die es hinter sich herzieht, haben nur die Stärke eines feinen Haares. Sie können beruhigt sein, wir haben bis jetzt noch nie Schwierigkeiten mit diesem Ding gehabt.«
»Ausgezeichnet. Geben Sie Bescheid, wenn —«
»Er bewegt sich!« Der Techniker bediente einen Hebel, und Rogers hörte die schweren Schritte des Mannes über den Fußboden gehen. Dann war eine Sekunde lang Ruhe, bis man das zaghafte Klopfen seiner Knöchel an der Wohnungstür vernahm.
»Ich werde versuchen, etwas näher heranzukommen«, sagte der Techniker. Er bediente die Fernsteuerung und bald hörte man das schwere Atmen des Mannes.
»Warum ist er wohl so aufgeregt?« sagte Rogers leise vor sich hin.
Sie hörten, wie er wieder klopfte. Seine Füße kratzten nervös auf dem Boden.
Irgend jemand kam von innen auf die Tür zu. Sie wurde geöffnet und durch den Lautsprecher kam das Geräusch eines überraschten Atemzuges. Niemand hätte sagen können, ob er von dem Mann stammte oder demjenigen, der die Tür geöffnet hatte.
»Ja?« Es war die Stimme einer Frau.
»Edith?« Der Mann sprach leise und voller Scham.
Finchley fuhr aus seinen Gedanken auf. »Ich hab’s. Das war’s. Er hat den ganzen Tag daran gearbeitet, sich und seine Nerven auf diesen Augenblick vorzubereiten.«
»Quatsch! Ruhe!« schrie Rogers.
»Meine Name ist Edith Hayes«, sagte die Frau vorsichtig.
»Edith — ich bin Luke. Lucas Martino.«
»Luke!«
»Ich hatte einen Unfall, Edith. Ich bin erst seit ein paar Wochen aus dem Krankenhaus. Man hat mich pensioniert.«
Rogers brummte: »Hat sich ’ne schöne Geschichte zurechtgelegt.« .
»Er hat den ganzen Tag darauf verwandt, die richtige Formulierung zu finden«, sagte Finchley. »Glaubten Sie, daß er ihr die Geschichte von zwanzig Jahren erzählen würde, während er in der Wohnungstür steht?«
»Vielleicht.«
»Verflucht, Shawn, wenn dies hier nicht Martino ist, wie sollte er über sie Bescheid gewußt haben?«
»Es gibt eine Menge Wege, solche Einzelheiten aus einem Mann herauszuholen.«
»Unwahrscheinlich.«
»Nichts ist unwahrscheinlich. Wir dürfen nicht vergessen, daß Azarin ein gründlicher Mann ist.«
»Edith —«, seine Stimme zögerte, »kann — kann ich einen Augenblick hereinkommen?«
Die Frau sagte nach einer Weile: »Bitte schön, natürlich.«
»Danke.«
Der Techniker bewegte sein Mikrophon gegen die Wand und preßte es ganz dicht an sie heran.
»Bitte nimm Platz, Luke.«
»Danke.« Sie schienen sich wortlos gegenüberzusitzen. »Du hast eine schöne Wohnung hier, Edith. Es ist sehr gemütlich.«