»Edith, es tut mir leid.«
»Du hast dich bereits einmal heute abend entschuldigt, Lucas.« Der Stuhl der Frau kratzte über den Boden. »Ich möchte nicht, daß du vor mir auf dem Boden liegst. Ich hasse dich nicht — ich habe es niemals getan. Ich habe dich geliebt. Als ich Sam begegnete, wußte ich, daß ich jemanden zum Leben gefunden hatte.«
»Ich bin froh, Edith, daß du es so gesehen hast.«
»Glaub’ mir, ich habe nicht immer so gedacht. Aber man kann in zwanzig Jahren über eine Menge nachdenken.«
»Ja, das stimmt.«
»Es ist irgendwie eigenartig. Wenn man so die Vergangenheit überdenkt, sieht man plötzlich Dinge, die dir zu der Zeit, als du sie durchlebt hast, nicht bewußt geworden sind. Man erkennt, daß alles anders gekommen wäre, hätte man nur ein einziges Wort anders gesagt.«
»Das ist wahr.«
»Natürlich muß man sich immer wieder daran erinnern, daß man vielleicht das sieht, was man gern sehen möchte. Es ist schwer zu entscheiden, ob man träumt oder nicht.«
»Ja. Ich glaube auch.«
»Das ist typisch für die Erinnerung. Sie perfektioniert. In ihr werden die Menschen, die du am liebsten hattest, idealer und perfekter, als es menschlich ist. Sie werden niemals alt, sie verändern sich kaum. In der Erinnerung schieben sich keine zwanzig Jahre zwischen das Du und Ich. In der Erinnerung hast du die besten Freunde, in den Gedanken der Vergangenheit die größte Liebe.«
»Ja.«
»Ich glaube, das Wasser kocht. Ich werde den Kaffee fertig machen.«
»Ja.«
»Du hast immer noch deinen Mantel an, Lucas.«
»Ich werde ihn ausziehen.«
»Bin gleich wieder zurück.«
Rogers sah Finchley an. »Was glauben Sie, wird sie jetzt machen?«
Finchley schüttelte den Kopf.
Die Frau kam aus der Küche zurück; man hörte das Klappern von Tassen.
»Mir fiel gerade ein, daß du nie Milch und Zucker in deinem Kaffe trankst.«
Der Mann zögerte einen Moment. »Das ist lieb von dir, Edith. Aber — ich mag schwarzen Kaffee überhaupt nicht mehr. Entschuldige.«
»Warum? Weil du deine Gewohnheiten geändert hast? Gib deine Tasse her, ich werde dir deinen Kaffee in der Küche fertigmachen.«
»Nur ganz wenig Milch, bitte. Und zwei Löffel Zucker.«
Finchley sagte: »Was wissen wir über Martinos Gewohnheiten in bezug aufs Kaffeetrinken?«
»Das liegt alles fest. Wir können es sofort feststellen lassen«, antwortete Rogers.
»Um ganz sicher zu gehen, lassen wir es gleich durchgeben.« Finchley hatte sich wieder nach vorn gebeugt.
Die Frau kam mit dem Kaffee zurück. »Hoffentlich ist er so richtig, Lucas.«
»Ganz ausgezeichnet, Edith, danke. Ich hoffe, daß es dir nichts ausmacht, mich trinken zu sehen.«
»Warum, Lucas? Ich weiß noch zu genau, wie du es damals getan hast.«
Eine Weile lang hörte man nichts. Dann fragte die Frau: »Fühlst du dich jetzt besser, Lucas?«
»Besser?«
»Ja. Bis jetzt warst du genau so angespannt wie an jenem ersten Tag, als du mich ansprachst, weißt du, damals im Zoo.«
»Ich kann nichts dagegen machen.«
»Ich weiß, Lucas. Du kamst hierher, um etwas zu finden, aber du kannst es nicht in Worte fassen. So warst du immer.«
»Ich weiß darum, Edith!«
»Glaubst du, es wird besser, wenn du darüber lachst?«
Nach einer Pause: »Ich weiß nicht.«
»Lucas, wenn du dort wieder beginnen möchtest, wo wir damals aufgehört haben, ich habe nichts dagegen.«
»Edith?«
»Wenn du mir den Hof machen willst.«
Einen Augenblick lang war der Mann totenstill. Er atmete kaum. Dann stand er auf und sagte erregt: »Edith — sieh mich an! Denk doch nur an die Menschen, die dir und mir folgen werden, bis ich sterbe; und ich werde sterben. Nicht morgen, auch nicht übermorgen, aber sehr wahrscheinlich vor dir, und dann bist du wieder allein. Ich kann nicht arbeiten, ich kann dich nirgendwo hinführen, ich kann überhaupt nichts. Nein, Edith, das geht nicht. Außerdem bin ich nicht deshalb zu dir gekommen.«
»War es nicht das, woran du gedacht hast, als du im Krankenhaus lagst? Auf das du gehofft gegen alle mißgünstigen Tatsachen?«
»Edith —«
»Damals konnte aus uns nichts werden. Ich liebte Sam und war gerne seine Frau. Aber heute ist es etwas anderes. Du darfst nicht vergessen, daß auch ich gedacht habe, zwanzig Jahre lang.«
Im Wagen saß Finchley gespannt über dem Lautsprecher. Plötzlich schrie er wild auf: »Mensch, Kerl, nimm die Chance! Ruiniere dich nicht wieder selbst!« Als er bemerkte, daß Rogers ihn mit großen Augen ansah, verstummte er.
In der Wohnung ging der Mann nervös im Zimmer auf und ab. »Nein, Edith, nein, ich kann nicht!« Seine Stimme war laut und heiser.
»Du kannst, wenn du willst«, sagte die Frau gütig.
Ein letztes Mal seufzte der Mann. Rogers konnte ihn sehen, wie er seine Schultern langsam fallen ließ und die geballten Hände entspannte. Wer er auch war, Martino oder nicht, Verräter oder Spion, dieser Mann hatte einen Hafen gefunden.
In der Wohnung öffnete sich eine Tür. Die schläfrige Stimme eines Kindes war zu hören: »Ich bin aufgewacht, Mutti. Ich hörte einen Mann sprechen. Oh — Mutti — was ist das!«
Der Frau verschlug es den Atem. »Das ist Luke, Susan. Er ist ein alter Freund von mir und eben erst in New York angekommen. Ich wollte dir morgen von ihm erzählen.« Sie ging durch den Raum auf das Kind zu. Sie sprach leiser, als ob sie sich zu ihm heruntergebeugt habe. »Lucas ist ein netter Mann, Liebling. Er ist verunglückt — sehr schwer sogar — und die Ärzte haben ihm das antun müssen. Aber es ist nicht so schlimm, mein Kleines.«
»Mutti, wie der mich ansieht.«
»Hab’ keine Angst, Susan — ich will dir nichts tun. Bestimmt nicht.« Der Fußboden knarrte unter seinem Gewicht, als er sich auf das Kind zu bewegte. »Schau mich an, eigentlich bin ich doch ein sehr lustig aussehender Mann, nicht wahr? Sieh’ mal, wie ich mit meinen Augen blinken kann. Ist das nicht komisch?« Man konnte hören, daß er laut atmete. Es klang wie das Schnaufen eines vorsintflutlichen Tieres. »Nun, Susan, du hast doch keine Angst vor mir, nicht wahr?«
»Doch, doch! Mach, daß du weggehst! Mutti, Mutti, laß ihn nicht an mich heran!«
»Aber er ist wirklich ein lieber Mensch, Susan, er möchte dein Freund sein.«
»Guck’ mal, ich kann noch andere Späße. Siehst du, wie ich, meine Hand drehe? Komisch, nicht? Paß’ mal auf, jetzt schließ ich meine Augen!« Der Mann sprach hastig und zitternd…
»Nein, ich mag dich nicht! Wenn du ein lieber Mensch bist, warum lachst du nicht?«
Der Mann ging ein paar Schritte zurück.
Die Frau suchte nach Worten und sagte schwerfällig: »Er — er lacht in seinem Herzen, Kleines.« Aber der Mann fiel ihr ins Wort: »Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe, Edith. Ich würde sie nur noch mehr aufregen, wenn ich bliebe.«
»Lucas, bitte —«
»Ich werde ein andermal wiederkommen. Ich gebe dir Bescheid.« Man hörte ihn die Türklinke ergreifen.
»Luke — hier ist dein Mantel — Du, ich werde mit ihr sprechen. Ich werde es ihr erklären. Du mußt verstehen, sie ist gerade aufgewacht, und vielleicht hatte sie einen Alptraum.«
»Ja«, sagte der Mann und schritt aus der Tür, so daß der Techniker kaum das Mikrophon zurückholen konnte.
»Du kommst doch bestimmt wieder, Lucas?«
»Natürlich, Edith.« Er zögerte einen Moment »Ich werde mich mit dir in Verbindung setzen.«
»Luke —«
Der Mann stand schon auf der Treppe. Mit hastigen Schritten kam er heruntergelaufen. Er hatte das Mikrophon nicht gesehen. Rogers gab den beiden Beobachtungsagenten ein Zeichen, worauf sie sich von dem Gebäude entfernten. Als der Mann auf die Straße trat, zog er seinen Hut ins Gesicht und lief, so schnell er konnte, auf die nächste Ecke zu, bog in die Seitenstraße ein und war verschwunden. Hinter ihm liefen die beiden Agenten.