Das Mikrophon auf der Treppe war immer noch auf Empfang gestellt.
»Mutti — Mutti, sag’, wer ist Lucas?« Die Frau sprach ganz leise zu dem Kind: »Es ist egal, wer er ist, Susan, jetzt ist es egal.«
»Los, Jungs«, sagte Rogers. »Wir müssen uns beeilen, wenn er uns nicht entwischen soll.« Über sein Nachrichtengerät gab er Anweisungen an eine andere Beobachtungsgruppe, die er der ersten zur Hilfe schicken wollte, damit sie den schnell davoneilenden Mann nicht aus den Augen verloren. Finchley saß in eine Ecke gekauert, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gesicht sah eingefallen aus.
Der Wagen passierte den ersten Agenten. Er sah besorgt aus und versuchte schnell genug zu laufen, um dem fliehenden Mann auf den Versen zu bleiben. Auf der anderen Seite mußte er acht geben, nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Man sah, daß er sich auf die Lippen biß und Mühe hatte, den Schritt des Mannes zu halten.
Die Scheinwerfer des Wagens streiften die klobige Gestalt des Mannes. Seine Schritte waren schnell und geräumig. Er hatte die Hände in den Taschen und den runden Kopf tief nach vorn gebeugt.
»Wo er wohl hingeht?« sagte Rogers.
»Ich glaube nicht, daß er es weiß.« Finchley hatte Rogers überflüssige Frage kalt beantwortet.
Der Mann schritt in der Dunkelheit auf die Mac-Dougal-Straße zu. Als er die Lichter eines Kaffeehauses sah, machte er kehrt und bog in eine kleine Gasse ein.
Eine Frau war aus dem dunklen Eingang eines Hauses getreten. Er ging an ihr vorbei, blieb dann stehen und fragte sie etwas. Sein Mund war offen, und die grellen Lichter des Wagens spiegelten sich auf seiner zu einer Maske erstarrten Fratze.
Die Frau schrie auf, ihre Hände vor die Augen legend. Der Klang ihres Schreis hallte von den hohen Wänden der dunklen Häuser wider.
In diesem Augenblick begann der Mann davonzulaufen. Man konnte seine schweren Schritte bis in den Wagen hören. Sie klangen, als klopfe jemand auf eine hohle Kiste.
»Ihm nach!« schrie Rogers. Er war selbst überrascht über die Art seines Ausrufs.
Der Mann war ihnen ein gutes Stück voraus. Auf seinem Rücken glitzerte das reflektierte Scheinwerferlicht. Er lief schwerfällig, kam aber trotzdem mit unglaublicher Geschwindigkeit voran.
»Mein Gott!« sagte Finchley, »seht euch das an!«
»Ein menschliches Wesen kann so schnell nicht laufen«, sagte Rogers, »aber der da hat ja keine Lungen. Ihm bleibt die Luft nicht weg. Er rennt, so schnell es sein Herz aushalten kann.«
»Oder noch schneller.«
Der Mann rannte gegen eine Mauer und bremste mit einem Ruck. Er drehte sich um und lief zurück nach Süden zu.
»Los!« bellte Rogers den Fahrer an. »Jag’ den Hasen, bis er umfällt!«
Mit lautem Bremsen jagte der Wagen um eine Ecke. Immer noch war der Mann weit voraus. Er sah sich nicht ein einziges Mal um. Die Straße war dunkel, und nur in der Ferne sah man die regelmäßig wechselnden Farben einiger Verkehrsampeln. Es schien, als fege ein heftiger Wind den Mann durch diese menschenleere Gasse.
»Aufhören«, schrie Finchley. »Er wird sich noch umbringen!«
Der Fahrer gab mehr Gas und steuerte den Wagen über die aufgerissene Straßendecke. Jetzt hatte der Mann eine Ecke erreicht. Er blieb kurz stehen und sah sich um. Als er die Lichter heranbrausen sah, schoß er wieder davon, noch schneller und noch unmenschlicher.
»In diese Straße können wir nicht! Einbahnstraße!« Der Fahrer war nun ebenso aufgeregt wie Rogers und Finchley.
»Quatsch nicht, Idiot, fahr’ zu!« schrie Finchley. Er fiel in seinen Sitz zurück, als der Wagen nach vorn schoß. »Wir müssen ihn kriegen, bevor er sich zu Tode läuft!«
Auf beiden Seiten der Straße standen dicht gedrängt parkende Autos. Der verbleibende Raum war gerade noch breit genug, um einem Wagen die Durchfahrt zu ermöglichen, und wenige Häuserblocks weiter sah man bereits ein Lichterpaar auf sie zukommen.
Im Lauf des Mannes lag jetzt Verzweiflung. Als der Wagen näher an ihn herankam, sah Rogers, daß sein Kopf suchend von rechts nach links zuckte. Es war klar, daß er nach einem neuen Fluchtweg Ausschau hielt.
Als sie auf gleicher Höhe waren, schraubte Finchley sein Fenster herunter und rief dem Mann zu: »Martino! Bleiben Sie stehen! Hören Sie, es ist alles in Ordnung, aber um Gottes Willen bleiben Sie stehen, Martino!«
Der Mann blieb stehen, sah auf die dunklen Umrisse des Wagens und rannte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
In diesem Augenblick trat der Fahrer auf die Bremse und schaltete gleichzeitig den Rückwärtsgang ein. Die Kupplung brach, während sich die Kardanwelle feststellte. Der Wagen rutschte mit blockierten Rädern über die Straße. Sekunden später standen sie in Flammen. Rogers Körper schoß nach vorn, seine Zähne schlugen aufeinander. Finchley riß die Tür auf und sprang auf die Straße.
»Martino!«
Der Mann war auf der anderen Straßenseite angelangt und lief, so schnell er konnte, auf das Ende zu. Er sah sich nicht um und kümmerte sich nicht um Finchleys verzweifelte Rufe.
Als Rogers auf der anderen Seite des Wagens aus der Tür sprang, sah er den entgegenkommenden Wagen kaum zehn Meter entfernt.
»Finch! Paß auf!«
Inzwischen war der Mann an der Straßenecke angekommen. Finchley war nur noch wenige Meter hinter ihm. Er eilte weiter auf der Straße, um nicht um die parkenden Wagen herumlaufen zu müssen.
»Martino! Bleiben Sie stehen! Sie können es nicht aushalten — Martino — Sie machen sich ja kaputt!«
In diesem Augenblick brauste ein Wagen aus der Seitenstraße heraus, erfaßte Finchley mit dem Kotflügel und warf ihn mit voller Wucht gegen einen der parkenden Wagen.
Eine Sekunde lang stand alles still. Der Wagen mit dem zerbeulten Kotflügel stand wippend am Eingang der Straße. Rogers hielt sich an seinem Wagen fest, er glaubte, in den Erdboden zu versinken. Um ihn schwelte der Geruch von verbranntem Gummi. In der Ferne sah er den Mann laufen und fragte sich, ob er überhaupt irgendetwas gehört hatte seit die Frau jenen unbarmherzigen Schrei ausgestoßen hatte.
»Abblasen«, sagte er gereizt zu dem Fahrer. »Geben Sie an Ihr Hauptquartier durch, in welche Richtung er gelaufen ist, und sehen Sie zu, daß Sie seine Verfolgung wieder aufnehmen.«
Dann lief er über die Straße zu Finchley. Er war tot.
Das Hotel in der Bleeker Straße hatte einen schmalen Eingang zwischen zwei Ladengeschäften. Das Büro lag im Erdgeschoß, aus dem eine schmale Treppe zu den Zimmern herausführte. Müde und wenig interessiert saß der Portier auf einem Stuhl hinter dem Eingang. Er war ein alter Mann mit Stoppelbart und verschwommenen Augen. Er träumte auf seinem Stuhl und wartete auf den Morgen, daß er nach Hause gehen konnte.
Die Tür wurde geöffnet, jemand trat in die kleine Eingangshalle. Der alte Portier döste weiter, ohne sich darum zu kümmern. Wenn jemand ein Zimmer mieten wollte, mußte er schon zu ihm heraufkommen, und dann würde es noch früh genug sein, die Augen zu öffnen.
Seit zwanzig Jahren hatte er auf diesem Stuhl gesessen; er hatte nur Nachtdienst gemacht und war es inzwischen gewöhnt, alle möglichen Menschen zu sehen. Als er noch jünger war, verfolgte er wie alle anderen außerordentliche Vorkommnisse in der Zeitung, aber jetzt, da es ihm, nachts schwerfiel, die Augen aufzuhalten, kümmerte er sich kaum noch um das Leben in den Straßen. Es war so weit gekommen, daß ihn nichts mehr erschütterte oder überraschte; warum sollten die verrückten Ärzte von heute nicht einem Menschen einen Metallkopf aufsetzen? Sie machten ja auch Beine aus Aluminium. Und die hatte er oft genug hinter sich die Treppe herunterkommen hören.