Der Mann, der jetzt vor seinem Schreibtisch stand, versuchte zu sprechen. Aber während einer geraumen Zeit brachte er nur langgezogene, saugende Laute heraus. Man hätte fast sehen können, wie er die Luft durch seinen Mund einsog. Er stand vor dem Schreibtisch und hielt seine Hand an die linke Brustseite. Endlich sagte er, nachdem er krampfhaft nach Worten gesucht hatte: »Wieviel kostet bei Ihnen ein Zimmer?«
»Fünf Dollar«, sagte der Portier. Er griff nach hinten, um ihm einen Schlüssel zu geben. »Im voraus natürlich.«
Der Mann suchte nach seiner Brieftasche, nahm einen Geldschein heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. Er versuchte den Alten nicht anzusehen, und schaute verzweifelt zu Boden.
»Die Zimmernummer steht auf dem Schlüssel«, brummte der Portier. Dabei stopfte er die Banknote in den Schlitz einer Geldkassette.
Der Mann nickte. »Danke.« Verlegen zeigte er auf sein Gesicht. »Ich hatte einen Unfall. Einen Betriebsunfall. Eine Explosion.«
»Interessiert mich nicht im geringsten«, brummte der Portier. »Aber damit Sie es wissen: keine Trinkerei in Ihrem Zimmer und um acht Uhr raus, sonst kostet es weitere fünf Dollar.«
Es war neun Uhr morgens. Rogers saß in seinem kalten, unfreundlichen Büro. Das Telefon schellte. Nach einem Augenblick hob er den Hörer ab.
»Rogers.«
»Avery hier, Chef. Unser Mann steckt immer noch in seinem Hotel. Kurz vor acht ist er heruntergekommen, hat die Miete für einen weiteren Tag bezahlt und ist wieder in sein Zimmer gegangen.«
»Danke. Dranbleiben!«
Er ließ den Hörer auf die Gabel fallen und neigte seinen Kopf soweit nach vorn, daß er fast die Tischplatte berührte.
Sekunden später summte der Wecker seines Bürosprechgerätes. Er richtete sich auf und drückte auf den Empfangsknopf. »Ja?«
»Fräulein DeFillipo ist hier, Herr Rogers.«
»Schicken Sie sie herein.«
Er wartete bis das junge Mädchen in der Tür stand, erst dann hob er den Finger von dem Knopf. »Bitte, treten Sie ein. Nehmen Sie Platz — dort steht ein Stuhl für Sie.«
Angela DeFillipo war ein attraktives junges Mädchen mit rotblondem Haar und von schlankem Wuchs. Rogers schätzte sie auf ungefähr achtzehn Jahre. Ihre Bewegungen waren selbstsicher und zeigten nicht die geringste Nervosität. Rogers stellte sich vor, daß sie unter normalen Umständen wohl kaum zu erschüttern war und daß sie frei von jeglichem Schuldgefühl sein mußte, das normalerweise selbst die unschuldigen Leute leicht unsicher machte, wenn sie in dieses Gebäude kamen.
»Mein Name ist Shawn Rogers«, sagte er und versuchte zu lächeln.
Sie gaben sich die Hand, und Rogers war überrascht über ihren festen Griff. »Guten Tag«, sagte sie.
»Ich weiß, daß Sie zur Arbeit müssen, und ich werde mich mit meinen dummen Fragen beeilen, so daß wir Sie so schnell wie möglich wieder entlassen können.« Er stellte das Tonbandgerät an.
»Ich hoffe, daß ich Ihnen helfen kann.«
»Danke. Ihr Name ist Angela DeFillipo, und Ihre Anschrift Mac-Dougal-Straße 33, hier in New York. Stimmt das?«
»Ja.«
»Gestern abend — es war der zwölfte — befanden Sie sich gegen halbelf an der Ecke Mac-Dougal-Straße Bleeker Straße. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Wollen Sie mir bitte erzählen, wie Sie dorthin kamen und was dort geschah.«
»Ja, das war so: ich verließ gerade unser Haus, das nur wenige Schritte von der Ecke entfernt ist, um in dem Lebensmittelgeschäft in der Houston Straße Milch zu holen. Ich hörte die Fußschritte eines Mannes, der die Straße heraufkam, aber ich beachtete ihn zunächst nicht.«
»Der Mann kam auf die Bleeker Straße zu, auf der linken Seite, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sprechen Sie weiter, Fräulein DeFillipo. Ich werde Sie vielleicht noch einmal unterbrechen, um das eine oder andere ganz klar zu machen; aber was Sie angeht, so machen Sie es sehr gut.«
»Nun, wie ich schon sagte, ich hörte jemand, kümmerte mich aber zunächst nicht um ihn. Als ich ihn dann sah, stellte ich fest, daß er sehr schnell ging. In diesem Augenblick kam er auf meine Seite herüber, und es schien, als wolle er in unsere kleine Gasse einbiegen. Er kam direkt auf mich zu, und ich bemühte mich, ihm aus dem Weg zu gehen. Hinter ihm brannte eine Straßenlaterne, so daß ich ihn erkennen konnte. Er war groß und breit. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Es sah so aus, als sähe er mich überhaupt nicht, denn er rannte, ohne aufzuschauen, in mich hinein. Sie können sich vorstellen, daß es mir in diesem Augenblick ein wenig ungemütlich wurde.
Als er ganz dicht vor mir war, trat ich einen Schritt zur Seite. Er streifte meinen Rock und sah auf. Sein Gesicht war irgendwie komisch.«
»Was meinen Sie mit ›irgendwie komisch‹, Fräulein DeFillipo?«
»Nichts besonderes, nur eben komisch. So jedenfalls schien es mir in diesem Augenblick.«
»Ich verstehe.«
»Einen Augenblick später leuchtete sein Gesicht auf. Ich glaube, durch die Lichter eines Wagens. Es war ungeheuerlich: sein Gesicht war aus Metall, und sein Mund, oder was an dieser Stelle war, klaffte herunter und schien zu staunen. Dann sagte er auf eine ganz eigentümliche Art: ›Barbara — ich bin’s — der Deutsche!‹ «
Überrascht beugte Rogers sich vor. »Barbara — ich bin’s — der Deutsche? Sind Sie sicher, daß er das gesagt hat?« .
»Ja. Es klang sehr überrascht und —«
»Was und, Fräulein DeFillipo?«
»Jetzt gerade im Augenblick wird mir bewußt, warum ich aufschrie.«
»Und?«
»Er sagte es auf Italienisch.« Sie blickte verwundert auf Rogers. »Erst jetzt wird es mir bewußt.«
Rogers blickte auf die weiße Decke seines Büros. »Er sagte es auf Italienisch? Und es war bestimmt ›Barbara — ich bin’s — der Deutsche?‹ Aber das gibt doch keinen Sinn! Können Sie sich etwas darunter vorstellen?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
Rogers sah auf den Bleistift, mit dem er auf seiner Schreibunterlage spielte. »Wie gut sprechen Sie Italienisch, Fräulein DeFillipo?«
»Zu Hause spreche ich es den ganzen Tag.«
Rogers winkte ab. Ihm war etwas anderes eingefallen. »Sagen Sie, soviel ich weiß, spricht man in Italien mehrere Dialekte. Könnten Sie mir sagen, wie der seine klang?«
»Man könnte es amerikanisches Italienisch nennen.«
»So wie man es spricht, wenn man sehr lange in diesem Land gelebt hat?«
»Ja, so ungefähr. Aber ich bin kein Fachmann für Sprachen. Ich spreche sie nur.«
»Hm. Kennen Sie jemand, der Barbara heißt und Ihnen sehr ähnlich sieht?«
»Nein … nein, nicht, daß ich wüßte.«
»Schön, Fräulein DeFillipo. Als er Sie ansprach, schrien Sie auf. Was geschah weiter?«
»Nichts. Er drehte sich um und lief in die Gasse. Ein Wagen folgte ihm, und ein paar Augenblicke später kam einer Ihrer Männer und fragte mich, ob ich in Ordnung sei. Ich sagte ja, und er begleitete mich nach Hause. Den Rest kennen Sie.«
»Ja. Haben Sie recht vielen Dank, Fräulein DeFillipo. Sie haben uns ganz erheblich geholfen, und ich glaube nicht, daß wir Sie noch einmal bemühen werden müssen. Sollte es doch sein, werden wir Sie benachrichtigen.«
»Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann, Herr Rogers. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Fräulein DeFillipo, und nochmals herzlichen Dank.«
Das war ein Mädchen, dachte Rogers. Die würde nicht unruhig werden, wenn ihr Mann einen Posten wie ich hätte.
»Barbara — ich bin’s — der Deutsche.« Wieder ein Umstand mehr, der untersucht werden mußte.
Er versuchte sich vorzustellen, was Martino wohl empfand, nun er sich in seinem Hotelzimmer eingeschlossen hatte, und wann er wohl den einen oder anderen schlüssigen Beweis erbringen würde.
Wieder summte der Apparat auf seinem Schreibtisch.