»Ja?«
»Herr Rogers? Hier spricht Reed. Ich bin noch einmal die Liste mit Martinos Bekannten durchgegangen.«
»Und?«
»Da ist jener Francis Heywood. Er war Martinos Stubenkamerad auf der Universität von Boston.«
»Meinen Sie den, der die große Nummer bei der Regierung der Alliierten Nationen geworden ist? Der das Büro zur Verwendung von technischem Personal unter sich hatte? Der ist tot. Bei einem Flugzeugunglück umgekommen. Warum? Was ist los mit ihm?«
»Der amerikanische Geheimdienst hat gerade einen Bericht über ihn zusammengestellt. Bei der Aufdeckung eines sowjetischen Spionageringes in Washington hat man herausgefunden, daß er, als er noch lebte, zu ihm gehörte.«
»Sind Sie sicher, daß es der gleiche Francis Heywood ist?«
»Todsicher. Wir haben seine Fingerabdrücke und Photos mit den unsrigen verglichen.«
Rogers ließ den Atem pfeifend durch seine Lippen entweichen. »Schön. Bringen Sie die Papiere herauf. Wir wollen sie uns mal ansehen.«
Als Rogers die Akte durchgesehen hatte, wußte er nicht mehr, warum er noch zweifelte. Die ganze Heywood-Affäre war so lückenlos und perfekt, daß selbst der gerissenste Geheimagent seine Bewunderung nicht zurückhalten konnte.
Francis Heywood besuchte zur gleichen Zeit wie Martino die Universität Boston. Beide lebten während ihrer Studienzeit zusammen in einer der kleinen Studentenwohnungen ihres Instituts. Ob er damals schon ein sowjetischer Agent war, war fraglich. Aber es bestand kein Zweifel darüber, daß er einem Geheimring angehörte, als er von der amerikanischen Regierung zu den Alliierten Nationen versetzt wurde. Seine Aufgabe bestand darin, Schlüsselfiguren auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet mit den notwendigen Arbeitsvoraussetzungen zu versehen. Man sah in ihm den hervorragendsten Experten auf diesem Gebiet. Jetzt, nachdem man seine Zugehörigkeit zu dem sowjetischen Spionagering aufgedeckt hatte, schloß man, daß er unter Umständen auch Martino in die Hände der Sowjets gespielt hatte.
Ob er wußte, worum es sich bei dem K-88-Projekt handelte, war nicht klar. So weit es seine Direktiven anging, sollte er nur grobe Kenntnisse von den Dingen haben, die er bearbeitete, aber es war ganz selbstverständlich, daß er eher als irgendein anderer über das eine oder andere Projekt Einzelheiten erfahren konnte.
Das alles war interessant; aber wichtiger war sein Verschwinden.
Einen Monat, nachdem Lucas Martino verschwunden war, flog Heywood mit einer planmäßigen Verkehrsmaschine nach Europa. Sein Flug wurde als Informationsreise deklariert und konnte insofern Vorwand für alles mögliche sein. Mitten über dem Ozean, berichtete der Funker des Flugzeuges, sei ein Motor durch eine Explosion ausgefallen. Minuten später funkte er Notsignale und gab durch, daß sie notwassern würden. Als Rettungsflugzeuge an die Stelle des Absturzes kamen, fanden sie nur noch einige Wrackteile und Leichen. Es wurde festgestellt, daß das Flugzeug beim Aufsetzen zerbrochen war; mit Echolotmessungen konnte man sogar den Hauptteil des versunkenen Rumpfes feststellen. Es war ein ganz gewöhnlicher Motorenausfall. Nichts ließ darauf schließen, daß sowjetische Jagdflugzeuge die Verkehrsmaschine angegriffen hatten. Bis zum letzten Augenblick gab der Funker routinemäßige Meldungen durch.
Es wollte Rogers jedoch nicht aus dem Sinn, daß man einen Mann an einem vorher festgelegten Ort auf das Wasser hat niederkommen lassen, um ihn dann an Bord eines Unterseebootes zu nehmen.
Um das Verschwinden des Mannes vollständig zu verwischen, war es nicht ausgeschlossen, daß man ein ganzes Verkehrsflugzeug zum Absturz brachte. Wer würde schon einen einzigen Passagier vermissen, wenn so viele andere untergegangen waren? Natürlich war es ein wenig riskant. Aber wenn man, die richtige Art von Notfall konstruierte und den Mann vorher darauf vorbereitet hatte, würde es nicht unmöglich sein, selbst wenn mehr Passagiere als vorgesehen mit dem Leben davonkamen. Für deren Ableben würde das Unterseeboot schon Sorge tragen können.
Rogers sah auf die Akte Heywood.
Er war ein Meter achtzig groß gewesen und hatte einhundert Kilo gewogen. Er war etwas untersetzt und von leichter, dunkler Hautfarbe. Er hatte genau das gleiche Alter wie Martino gehabt. Während er in Europa gewesen war, hatte er etwas Italienisch sprechen gelernt, wahrscheinlich mit amerikanischem Akzent.
Nicht festzustellen war, ob Lucas Martino ihm während ihres dreijährigen Zusammenlebens viel über sich und seine privaten Probleme erzählt hatte. Es stand auch nirgends, ob er ein Bild Ediths auf seinem Tisch zu stehen hatte, oder sogar eines von Barbara, das Heywood jeden Tag sah und mit der Zeit in sich aufgenommen hatte. Vielleicht hätte Heywood erklären können, was Angela DeFillipo in der vergangenen Nacht so erschreckt hatte.
War dieser Martino-Mensch ein so guter Schauspieler? Konnte ein Mensch überhaupt ein so guter Schauspieler sein?
10.
Als der junge Lucas Martino auf die Universität Boston kam, war er überzeugt, daß mit ihm etwas nicht stimmte, und er war entschlossen, es abzustellen, wenn er konnte. Aber schon bald mußte er erkennen, daß dieses so naheliegende Vorhaben schwieriger war, als er sich erträumt hatte.
Die Studenten der Technischen Hochschule waren auserlesene junge Menschen, von denen man erwartete, daß sie eines Tages Stellungen von höchster Verantwortung übernehmen würden. In der alliierten Welt gab es tausend Unternehmen, die nur darauf warteten, besetzt zu werden. Ein System basierte auf dem anderen; sie waren so sehr ineinander verwoben, daß ein schwaches Glied der Kette die ganze Entwicklung zunichte machen konnte. Ein unzuverlässiger Mann bedeutete den Untergang einer ganzen Reihe von mühsam erarbeiteten Projekten. Man hatte ihn so schnell wie möglich herauszufinden und zu entlassen.
Die Lehrer des Technikums waren hervorragende Kapazitäten auf ihrem Gebiet. Ihre Vorträge waren klar und ohne zweifelhafte Argumente. Sie trieben ihre Klassen nicht oder schenkten dem einen Studenten mehr Aufmerksamkeit als dem anderen. Sie erwarteten von ihren Schülern, daß sie fähig waren, das vorgeschriebene Pensum ohne Wiederholungen aufzunehmen.
Lucas hielt diese Art des Unterrichts für die beste Methode. Wenn gewisse Tatsachen gegeben waren, war es besser, daß man Studenten, die sie nicht sogleich verarbeiteten und einordnen konnten, ausmerzte, bevor sie die übrigen an einem zügigen Vorwärtskommen hinderten. Für ihn war diese Unterrichtsmethode ein natürlicher Prozeß, und es kam des öfteren vor, daß er ungeduldig wurde, wenn sein Nebenmann ihn um Hilfe bat und bereits schon soweit zurück war, daß er den Anschluß nicht mehr finden würde. Gleich in den ersten Wochen erweckte er unter seinen Klassenkollegen den Eindruck, daß er unnahbar, kalt und unfreundlich sei.
Seine Lehrer schenkten ihm während des ersten Schuljahres kaum Beachtung. Sie wurden dafür bezahlt, die Schwachen und Unfähigen herauszufinden, nicht aber die Tüchtigen.
Auf Lucas machte es keinen Eindruck, daß man ihn nicht hinreichend würdigte. Er stürzte sich in seine Arbeit und war froh darüber, daß man ihn arbeiten ließ und daß man ihm jede Möglichkeit gab, seine Fähigkeiten anzuwenden. Für ihn war diese Welt eine Idealwelt; eine Welt, in der es nur Leute gab, die an nichts anderes dachten als an Arbeit.
Es dauerte fast zwei Monate, bis er sich so sehr an das Neue gewöhnt hatte, daß er sich einen nahezu regelmäßigen Tageslauf einrichten konnte und dadurch etwas Zeit für andere Dinge fand.
Aber was er fand, war, daß er isoliert war. Irgendwie hatte er es nicht fertiggebracht, Freunde zu gewinnen. Wenn er versuchte, mit anderen zusammenzukommen, mußte er immer wieder entdecken, daß man ihm aus dem Wege ging oder stark beschäftigt war. Er fand es eigentümlich, daß seine Kollegen nahezu doppelt solange für eine Arbeit benötigten, und er stolperte über die Vorstellung, daß auch diese Leute Studenten des gleichen Technikums waren.