Er hatte erwartet, daß er hier auf der Universität eine andere Sorte von Menschen treffen würde. Natürlich gab es eine ganze Reihe, die ihm nicht unähnlich waren; sie schliefen kaum, aßen in aller Eile und kannten nichts als ihre Studien. Sie machten ellenlange Notizen während der Vorlesungen und arbeiteten bis spät in die Nacht. Sie ließen die Briefe, die sie von zu Hause bekamen, unbeantwortet, und Abstecher in die nahegelegene Stadt waren ihnen unbekannt. Wenn sie sich irgendwo trafen, diskutierten sie über ihre Arbeit. Ob der eine oder andere persönliche Probleme hatte, konnte man ihnen nicht ansehen.
Aber Lucas erkannte bald, daß diese Typen weder besonders glücklich, noch hervorragend tüchtige Schüler waren. Sie waren nichts anderes als vorübergehend einseitig Beschränkte.
Eine Zeitlang glaubte Lucas, einer von ihnen zu sein. Aber irgendwie paßte diese Vorstellung nicht so recht, und er kam wieder einmal zu der Schlußfolgerung, daß er irgendeinen Schritt versäumt hatte, den andere Menschen so natürlich taten, daß sie ihn kaum bemerkten. Er war über diese Entdeckung wie immer beunruhigt und dachte über sie nach, sobald er dazu Zeit hatte.
Den einzigen Fortschritt, den er in dieser Hinsicht während der ersten Zeit machte, war die Entdeckung seines Stubenkameraden.
Frank Heywood war der ideale Partner für Lucas Martino. Er war ein stiller, zurückgezogener Mensch, der nur dann sprach, wenn es unbedingt notwendig war, und er schien seine Bewegungen so in ihrem Zimmer zu verteilen, daß sie nie mit denen von Lucas in Konflikt gerieten. Für ihn war das Zimmer nur zum Schlafen und Studieren da; sobald er Zeit hatte, war er fort. Lucas glaubte, daß auch er eine ganze Zeit auf Studien verwandte und dadurch keine Zeit fand, mehr als höflich zu ihm zu sein. Als Frank eines Abends zu ihm sagte: »Weißt du, du bist zweifelsohne die große Nummer in dieser illustren Gesellschaft«, schloß Lucas, daß auch, er inzwischen ein Arbeitssystem gefunden haben mußte und nun Zeit hatte, neben seinen Studien auch noch private Unterhaltungen zu führen.
Lucas saß an seinem Schreibtisch, das Kinn auf seine Hände gestützt und las. Als er Frank sprechen hörte, drehte er sich um und sagte: »Meinst du mich?«
»Ja, dich.« Heywood hatte einen glaubwürdigen Gesichtsausdruck. »Ich meine es ehrlich. Jeder sagt von dir, daß du ein Streber bist. Aber das ist großer Blödsinn. Ich habe dich beobachtet und festgestellt, daß du halb so viel in den Büchern wühlst wie die anderen Affen. Du hast es ja gar nicht nötig. Du siehst es dir einmal an und weißt es bis in alle Ewigkeit.«
»So?«
»Das aber bedeutet, daß du Grütze hast.«
»Ich glaube nicht, daß man Idioten auf diese Schule läßt.«
»Idioten?« Frank fuchtelte wild mit den Händen in der Luft.
»Bestimmt nicht! Schließlich ist dieses Loch die Wiege von Amerikas Intelligenzbonzen, das Magazin der geschliffensten Wissenschaftlerjugend, mit einem Wort: die Hoffnung von morgen. Und dabei kann keiner von ihnen das Quadrat von Plus Eins nennen, ohne sich stundenlang darüber den Kopf zu zerbrechen. Warum? Weil man ihnen gezeigt hat, in welchem Buch sie es nachlesen können, nicht aber, wie man es gebraucht. Du dagegen bist anders.«
Lucas sah Frank erstaunt an. Immerhin war das bisher die längste Rede, die er gehalten hatte. Hinzu kam, daß diese Ansicht für Lucas völlig neu war! Von dieser Seite hatte er das Technikum noch nie betrachtet.
»Was meinst du damit?« fragte er. Er war neugierig geworden und wollte so viel wie möglich über diesen neuen Standpunkt wissen.
»Es ist so: bei der Methode, die man hier anwendet, können die meisten nur durchkommen, wenn sie alles auswendig lernen. Ich kenne meine Pappenheimer, ich habe mit manch einem gesprochen. Was gilt die Wette, daß allein auf unserem Flur mindestens zehn Genossen ihre Bücher in- und auswendig herunterrasseln können, und daß in fünfzehn Jahren unsere Wissenschaft zum Teufel geht, weil niemand den Mut besitzt — ganz abgesehen von dem Können — die Fehler zu verbessern, die sie ohne zu denken, aus ihren Büchern gelernt haben. Ganz bestimmt nicht jene zehn Genossen. Sie werden ihr ganzes Leben lang Kontrollsysteme für Fernraketen konstruieren, wie sie es aus ihren Kinderbüchern gelernt haben.«
»Ich verstehe dich immer noch nicht«, sagte Lucas. Er zog seine Stirn in Falten.
»Paß auf. Diese Typen hier sind keine Idioten. Sie sind verflucht intelligent, sonst wären sie nicht hier. Aber man hat sie eben nur gelehrt, Neues durch Auswendiglernen aufzunehmen. Ihnen bleibt dabei aber keine Zeit zum Denken. Natürlich werden sie, wenn die Zeit kommt, ihr Gedächtnis öffnen und Stück für Stück aus ihrer Erinnerung produzieren.
Ich will damit sagen, daß dies verdammt gefährlich ist. Daß ein intelligenter Mensch sich bewußt zu werden hat, was er macht und was er in sich aufnimmt, und daß jeder, der sich dessen bewußt wird, versuchen muß, eine Änderung herbeizuführen. Diese Schlafmützen aber stört das alles nicht im geringsten. Ich habe damit nicht gesagt, daß sie nicht schlau sind, wohl aber, daß sie nicht schlau genug sind.
Soweit die anderen. Nun kommst du dran. Wenn du arbeitest, macht es Spaß, dir zuzuschauen. Dein Gesicht leuchtet, wenn du einen Artikel über Elektronen liest, genauso als hättest du einen Liebesbrief vor dir. Du führst ein Projekt aus, als seist du der Mann, der einen riesigen Staudamm baut. Es ist offensichtlich; du kaust, bevor du herunterschluckst. Wenn man so etwas sieht, weiß man, wofür dieses Institut wirklich errichtet worden ist.«
Lucas sah auf: »Für wen? Für mich?«
»Ja, für dich. Glaub’ mir, ich habe mir jeden Vogel in diesem Käfig einzeln angesehen. Es gibt noch ein paar außer dir, aber in unserer Gruppe, in unseren vier Klassen, bist du der einzige. An dich kommt keiner heran. Und darum sage ich, daß man dich nicht aus den Augen lassen darf, du wirst einmal eine ganz große Nummer auf deinem Gebiet sein, ganz gleich, ob es sich um Hochbau oder Kerndynamik handelt.«
»Elektronen-Physik, schätze ich.«
»Schön. Elektronen-Physik. Ich bin sicher, daß die Sowjets in ein paar Jahren ganz nett aus dem Häuschen sein werden, wenn sie erfahren, woran du bastelst.«
Lucas blinzelte. Er war überwältigt. »Ich bin der uneheliche Sohn von Guglielmo Marconi«, sagte er. »Sieh dir die Ähnlichkeit unserer Namen an.« Mehr konnte er im Augenblick nicht zu seiner Verteidigung sagen. Immerhin hatte er vorübergehend Heywoods Redeschwall gestoppt und konnte jetzt beginnen, die vielen neuen Gedanken zu ordnen und zu überdenken.
Zum erstenmal hatte er hier ein überzeugendes Argument, daß Verschiedensein von anderen Menschen nicht notwendigerweise schlecht war. Dann fand er sich plötzlich jemandem gegenüber, der sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu beobachten und zu analysieren. Das hatte er bis jetzt nur von seinen Eltern erwartet. Diese zweite Erkenntnis führte zu einer dritten: wenn Frank so dachte und Dinge sah, die die anderen nicht zu sehen schienen, dann war auch er von den anderen verschieden.
Das aber war ungeheuerlich. Nicht nur, daß Lucas nun jemanden hatte, mit dem er sprechen konnte, sondern daß sein Gegenüber mindestens genauso tüchtig war wie er. Ja, sogar noch mehr, denn schließlich hatte er die Dinge erkannt, nicht Lucas.
Lucas fand Franks Hypothese nicht uninteressant. Wenn er sie logisch durchdachte, konnte er nicht umhin, sich selbst als ein Genie zu erkennen. Zwar fand er diese Tatsache sehr zweifelhaft, aber er fand kaum ein ernsthaftes Argument gegen sie. Im Gegenteil, diese Hypothese erlaubte es ihm endlich, sein ganzes bisheriges Leben zu interpretieren.
In den folgenden Wochen durchlebte Lucas eine Art beschwingenden Rausches. Es war ihm endlich gelungen, sich selbst zu erkennen. Er sprach mit Frank über das, was ihn gerade im Augenblick interessierte, und nur selten brachen sie ihre Diskussionen vor Mitternacht ab. Eines Abends fiel es Lucas ein, Frank nach seinen Fortschritten in der Klasse zu fragen.