Dies war eine gute Gelegenheit für ihn, ein wenig mit seinen Vorgesetzten zu spielen. Eines Tages würde er auch einer von ihnen sein, und dann hatte er mehr Erfahrung mit Untergebenen als die, die jetzt über ihm standen.
»Jawohl, ganz recht. Noch zwei Wochen.« Azarin zerbiß das vergoldete Mundstück seiner Papyros. Er sog nervös den Rauch durch die klebrige Papiermasse. »Ja, ich bin mir der langen Verzögerung durchaus bewußt, und ich werde die internationale Situation, die daraus entspringt, immer im Auge behalten.«
Gut. Man gab ihm also doch noch die Gelegenheit, Martino zu untersuchen. Einen kurzen Augenblick war Azarin glücklich.
Dann stolperte er wieder über den Gedanken, daß noch nicht einmal die geringste Vorarbeit geleistet worden war.
Verloren in Gedanken sagte er: »Gute Nacht, Gospodin.« Er legte den Hörer auf und ließ seinen Kopf auf die klobigen Hände fallen. Die Zigarette in seinen Fingern brannte langsam zu Ende.
Azarin war sich im klaren darüber, daß man einen Mann von der anderen Seite nur eine relativ kurze Zeit festhalten konnte. Die Aussichten auf eine entsprechende Vergeltung waren zu unangenehm. Auch mußte ein solcher Mann in dem bestmöglichen Zustand zurückgegeben werden, andernfalls spürte man noch Monate später eine Verschlechterung der allgemeinen Lage.
Normalerweise hielt man einen Mann nur ein bis zwei Tage fest, dann gab man ihn zurück. Rogers brauchte dann nochmals ein bis zwei Tage, um herauszufinden, was er erzählt hatte, und damit war die Sache abgeschlossen. Hatte er etwas Wichtiges verraten, sorgte Rogers gleich dafür, daß es wieder gutgemacht wurde. Azarin hielt dieses ganze Spiel für eine einzige große Zeit- und Energieverschwendung.
Aber jetzt hatten sie diesen Martino. Er hatte etwas erfunden, das sie K-88 nannten; er war ein Mann mit weitreichendem Ruf, aber ohne Unterlagen.
Azarin verwünschte es, in dieser komplizierten Zeit zu leben. Wieder blieb es an ihm hängen — ihm, dem Genossen Anasta Azarin — eine Sache, die so ein Amateurstümper wie Heywood eingefädelt hatte, zu klären. Azarin starrte auf seinen Schreibtisch. Und diese verrückten Kerle in Novoya Moskva taten auch noch so, als sei er der Schuldige. Sie schrien immer nur nach Resultaten. Daß der Mann fast fünf Wochen lang so gut wie tot gewesen war, interessierte sie nicht. Aber so war das nun einmal mit Bürokraten. Sie hielten sich an ihre Bücher und an das, was einmal so oder so in früheren Jahren gemacht worden war.
Schön, aber wer wußte schon etwas über Martino? Man wußte nur, daß er etwas erfunden hatte. Unterlagen gab es nur über seine ersten Studienjahre. Azarin fluchte und wünschte, daß er SIB Agenten habe, wie man sie im Kino sehen konnte. Agenten, die durch Stahlbetonwände dringen konnten und immer und zu jeder Zeit Zugang zu alphabetisch geordneten, bereits in kyrillische Schrift übersetzte, alliierte Staatsgeheimnisse hatten. Azarin hätte gern ein oder zwei solcher Leute unter sich gehabt. Aber sie waren nicht zu haben oder wurden sogleich zu Instrukteuren gemacht und damit aus dem aktiven Dienst gezogen.
Da war er nun, dieser Martino. Er war bewacht worden wie viele seinesgleichen, und nichts war durchgesickert. Wenn diese Explosion nicht gewesen wäre, hätte Azarin die Akte K-88 wahrscheinlich nie mehr zur Hand genommen.
Martino schien ein außerordentlich wertvoller Fang zu sein, man mußte ihn also solange als möglich dabehalten. Vielleicht war er es aber auch nicht, dann wäre er besser heute als morgen zurück bei den Alliierten. Er war beides zur gleichen Zeit und beides schien gleich dringend geboten. Die Situation war nahe daran, komisch zu werden; wenigstens galt das für einige Aspekte.
Azarin rauchte seine Zigarette zu Ende. Dann drückte er sie entschlossen in dem Aschenbecher aus. Er hatte plötzlich einen Plan und war sicher, daß er einige Resultate erzielen würde. Aber er wußte auch, daß Rogers fast so schlau war wie er. Er wußte, daß sein Gegenspieler jede Einzelheit kannte, die hier geschah, und Azarin gefiel der Gedanke ganz und gar nicht, daß man möglicherweise auf der anderen Seite über ihn lachte.
Eine Krankenschwester sah in Martinos Zimmer. Langsam ließ er seine rechte Hand wieder zurückgleiten. Die Krankenschwester verschwand, und einen Augenblick später trat ein Mann in weißem Kittel in den Raum.
Es war ein kleiner, drahtiger Mann mit gelber Haut. Er sah freudig aus, als er Martinos Puls fühlte, und seine spitzen, hervorstehenden Zähne gaben ihm den Ausdruck eines maskierten Clowns.
»Ich freue mich, daß Sie aufgewacht sind. Mein Name ist Kothu. Ich bin der Arzt hier. Wie fühlen Sie sich?«
Martino bewegte langsam den Kopf von der einen auf die andere Seite.
»Ich verstehe. Aber es blieb uns nichts anderes übrig. Von Ihrem Schädel war kaum noch etwas übriggeblieben, und die meisten Ihrer Sinnesorgane waren zerstört. Glücklicherweise wurden Sie nur einem kurzen Explosionsblitz ausgesetzt, so daß Ihr Schädel nicht eine längere, große Hitze auszuhalten hatte. Die Druckwelle, die dem Blitz folgte, zerbrach Ihre Knochen, ohne Sie zu zersplittern. Ich weiß, daß dies nicht amüsant ist, aber lassen Sie sich von mir sagen, daß es noch die beste Art ist, eine Explosion zu erleben. Ihr Arm, fürchte ich, wurde durch ein Metallstück völlig zertrümmert. Würden Sie bitte sprechen?«
Martino sah auf den Doktor. Er schämte sich immer des Schreies, den er ausgestoßen hatte, als die Krankenschwester in das Zimmer geschaut hatte. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er wohl aussah und wie er den Schrei hervorgebracht hatte. Wenn er Luft holte, mit der er seine Worte formulieren wollte, spürte er nur ein dumpfes Rollen unter seinen Rippen. Es war, als drehten sich die Räder einer Turbine.
»Sie brauchen sich nicht anzustrengen«, sagte Doktor Kothu. »Sprechen Sie einfach.«
»Ich —« Er spürte keinen Unterschied. Er hatte zunächst geglaubt, daß er durch einen künstlichen Kehlkopf sprechen müsse. Aber er hörte, daß seine Stimme noch genauso klang wie früher. Sein Brustkasten bewegte sich nicht, und er brauchte keinerlei Eigenenergie, um Worte hervorzubringen. Es war wie im Traum. Leicht und flüssig kamen die Worte hervor. »Ich — Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Do, re, mi, fa, sol, la, ti, do.«
»Vielen Dank. Sie helfen uns ganz ungewöhnlich. Sagen Sie mir, können Sie mich sehen? Sehen Sie, wie ich mich bewege? Bin ich klar?«
»Ja.« Die Servomotore summten in seinem Kopf. Martino versuchte seine Hand zu heben, um seinen Nasenrücken zu kratzen.
»Sehr gut. Wissen Sie, daß Sie schon über einen Monat bei uns sind?«
Martino schüttelte den Kopf. Warum hatte niemand versucht, ihn zurückzuholen? Ob man wohl dachte, er sei tot?
»Sie werden verstehen, daß wir Sie abgeschlossen halten mußten. Der Umfang unserer Arbeiten war zu groß.«
Martino hatte das Gefühl, als habe man seinen Körper mit groben Steinen gefüllt.
»Wie ich schon sagte, der Umfang unserer Arbeiten war sehr groß.« Doktor Kothu schien stolz. »Und ich muß sagen, daß Doktor Verstoff gute Arbeit geleistet hat in Bezug auf Ihre Schädelprothese. Und natürlich gilt das gleiche für Doktor Ho und Doktor Jansky. Sie haben Ihre Sinnesorgane wiederhergestellt. Die Medizintechniker Debrett, Fonten und Wassil zeichnen verantwortlich für Ihre Nieren- und Atmungsanlage. Ich selbst hatte die Ehre, die ganze Arbeit zu leiten und eine Methode zu entwickeln, die es den Nervenzellen erlaubt, sich wieder aufzubauen.« Er sprach etwas leiser. »Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, unsere Namen zu erwähnen, wenn Sie auf die andere Seite zurückgekehrt sind? Ich kenne Ihren Namen nicht«, fügte er schnell hinzu, »und ich weiß auch nicht, wo Sie herkommen, aber Sie müssen wissen, daß die Medizin uns die Möglichkeit gibt, einige Dinge am Körper eines Menschen abzulesen. Wir zum Beispiel auf dieser Seite, geben Pockenimpfungen auf den rechten Arm —« Er war ganz offensichtlich verwirrt. »Übrigens ist das, was wir hier getan haben, etwas ganz Neues. Heutzutage wird leider so etwas bei uns nicht mehr veröffentlicht.«