Plötzlich stand Azarin auf. Er spürte, daß seine Hände feucht waren. Es hatte keinen Zweck mehr, weiterzureden. Mit diesem Gespräch waren die Lager abgesteckt. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er, »wir werden uns wieder sprechen.« Er verbeugte sich. »Auf Wiedersehen, Doktor der Wissenschaft, Martino.«
»Auf Wiedersehen, Oberst Azarin.«
Azarin stieß den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, aus dem Weg und verließ Martinos Zimmer. Draußen stand der Doktor. »Ich bin für heute fertig«, rief er ihm zu und eilte durch den Gang auf den Ausgang zu. Als er in seinem Büro war, setzte er sich vor eine Tasse Tee und sah gebannt, aber ohne es so recht zu sehen, auf das Telefon.
Dr. Kothu kam kurz in das Krankenzimmer. Er untersuchte Martino und verließ, ohne viele Worte, wieder den Raum. Martino lag in seinem Bett und dachte.
Er wußte, daß dieser Azarin über kurz oder lang unangenehme Methoden anwenden würde. Martino rechnete mehr mit dieser Wahrscheinlichkeit, als daß er sie fürchtete.
Aber was ihn wirklich beschäftigte war sein Projekt, sein K-88. Er sah jetzt, was die Explosion verursacht hatte und dachte bereits an einen neuen Weg, wie er die enormen Hitzemengen absorbieren konnte.
So schwangen seine Gedanken von der einen Seite der Grenze auf die andere. Wie lange, sagte der kleine Doktor, werde er noch im Bett liegen müssen? Drei Tage oder vier? Aber was half es ihm, wenn er aufstehen durfte, und nicht zurückkonnte? Ob die Sowjets wohl viel über das K-88 wußten? Sehr unwahrscheinlich, denn dann hätten sie ihn sicher nicht so lange hoch-gepäppelt. Fest stand auf der anderen Seite, daß sie etwas wußten, sonst hätten sie nicht ein so großes Interesse, noch mehr aus ihm herauszubekommen.
Wie weit würden sie wohl gehen, um etwas herauszubekommen? Man hatte so viele Geschichten gehört. Aber vielleicht waren es nur Gräuelmärchen, die es hier genauso gab wie auf der anderen Seite.
Er war überrascht, als ihm bewußt wurde, daß er sich fürchtete. Er dachte darüber nach, ob er wohl ein Feigling sei. Seit dem Tag, an dem er den Unterschied zwischen Mut und Draufgängertum entdeckt hatte, war ihm so etwas nie mehr in den Sinn gekommen. Der Gedanke, daß er etwas Unsinniges aus Furcht tun könnte, war ihm neu.
Zwei Monate waren vergangen, seit Martino in das Krankenhaus eingeliefert worden war. Azarin wußte immer noch nicht, ob das K-88 eine neue Bombe war, Todesstrahlen oder eine besonders gute Vorrichtung zum Anspitzen von Bleistiften.
Er hatte mehrere längere Gespräche mit diesem komischen Wesen geführt. Alle umsonst. Es war immer sehr höflich gewesen, aber gesagt hatte es nie etwas. Azarin erkannte, daß es menschenunmöglich war, mit diesem Etwas zu kämpfen. Er saß in seinem Rollstuhl und wartete, daß er sich geschlagen geben würde. Es war wie einer jener Dschungelgötter, die auf ihrem Thron sitzen und mit Wohlgefallen das Opfer ihrer Untertanen mit ansehen.
Und immer dazwischen diese entnervenden Telefongespräche aus Novoya Moskva. Als Azarin an die Hauptstadt dachte, schlug er mit der Faust auf den Tisch. Welchen Ton sich diese Regierungsbeamten bereits angewöhnt hatten! War er nicht ihr bester Mann! Man müßte Zeit haben. Dann wüßte er schon, wie er diesen Martino kleinkriegen könnte. Aber die Herrn da oben wollten ihn so schnell als möglich an die Alliierten zurückgeben. So eine Dummheit!
Azarin suchte nach einer Antwort. Irgendwie mußte er einen Weg finden, um dieses Monstrum noch ein wenig in seinen Händen zu behalten. Er mußte Novoya Moskva zufriedenstellen. Aber er wußte, daß dies nicht eher Ruhe gab, als es etwas Vernünftiges den Alliierten sagen konnte. Und diese wiederum wollten nur eines hören: das Datum der Auslieferung Martinos.
Azarin zog seine dicken Augenbrauen zusammen. Ja! Das wäre eine Antwort, schoß es ihm durch den Kopf. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Doktor Kothu. Dieser Doktor hat den einen da zusammengebastelt, warum sollte er nicht einen zweiten fertigbringen?
Er zog seine Oberlippe hoch, als er an den Amerikaner Heywood dachte. Ein eigener Mann wäre vielleicht besser gewesen, aber dieser Heywood kannte sich gut in den Staaten aus. Er war der beste für diesen Auftrag. Es war sehr wahrscheinlich, daß er früher oder später versagte, aber das war jetzt nicht so wichtig. Wichtig war, daß man in Novoya Moskva seinen Vorschlag annahm. Und daran zweifelte er nicht; denn im Ministerium war man sehr stolz auf den übergelaufenen Ausländer. Man glaubte offensichtlich, daß ein Verräter zwar die eine Seite betrügen konnte, aber prinzipiell korrekt war. Zum erstenmal war Azarin froh bei dem Gedanken an die Dummheit seiner Vorgesetzten.
»Doktor Kothu? Hier spricht Azarin. Sagen Sie, könnten Sie mir ein genaues Abbild dieses Martino-Monsters machen, wenn ich Ihnen einen anderen Menschen schicke, einen gesunden diesmal?« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ja, Sie haben richtig gehört, einen gesunden Menschen. Aber verstehen Sie recht: ich brauche ein genaues Abbild, einen Zwilling des ersten.«
Als er das Gespräch mit Doktor Kothu beendet hatte, rief er Novoya Moskva an. Sein Gesicht hatte seine Starrheit verloren. Er grinste und sah fest entschlossen aus. Natürlich würde er etwas Geduld brauchen, um das Ministerium zu überzeugen, aber Azarin hatte plötzlich Zeit, viel Zeit. Er bereitete sich darauf vor, so lange auf den widerspenstigen Baum einzuhauen, bis er fiel. Daß er fallen mußte, wenn er lange genug zuschlug, wußte er, seit er mit seinem Vater die großen Bäume sibirischer Urwälder gefällt hatte.
Das Gespräch dauerte, wie er es erwartet hatte, eine geraume Weile. Als es zu Ende war, setzte er sich selbstzufrieden in seinem Sessel zurück. Wieder einmal war er es gewesen, der die Lösung eines Problems gefunden hatte, während die Bücherwürmer des Ministeriums voller Unentschlossenheit hin- und hergeschwankt waren.
Er stand auf und verließ sein Büro. Draußen sagte er zu seinem Adjutanten: »Ich bin auf dem Weg nach unten. Bestellen Sie einen Wagen für mich.«
Es würde einige Wochen dauern, bis Heywoods Befehle Washington erreicht hatten, aber dieser Teil des Planes würde ohne Schwierigkeiten abgewickelt werden. In einer Woche mußte Heywood hier ankommen. In der Zwischenzeit hatte er noch eine Menge zu erledigen. Ein Gefühl der Überlegenheit überkam ihn, als er daran dachte, daß die Alliierten jetzt auf größeren Widerstand stoßen würden, wenn sie bei dem Ministerium vorstellig wurden, und er war sicher, daß von nun ab die Telefonate aus Novoya Moskva etwas seltener werden würden.
Er hatte also alles zum besten gewendet. Er, der dumme, ungelehrte Bauer, Anastas Azarin. Er, der Tölpel, der seine Lippen bewegte, wenn er las, der den ganzen Tag Tee trank, der aus dem Urwald kam und hier zu arbeiten begann, während man in Novoya Moskva redete.
Azarin zwinkerte mit den Augen, als er in Martinos Zimmer trat. »So, jetzt wollen wir uns weiter unterhalten. Jetzt haben wir genügend Zeit, um herauszufinden, wobei es sich um das K-88 handelt.« Zum erstenmal hatte er diesen Ausdruck ohne Umschweife genannt. Er sah, daß der Körper des Mannes in dem Rollstuhl zusammenzuckte.
Als erstes bemerkte Martino, daß sein Zeitgefühl verloren ging. Er war nicht sonderlich überrascht, da es für ihn völlig klar war, daß außergewöhnliche Umstände nicht wie die normalen Dinge des täglichen Lebens, chronologische Beziehungserfahrungen darstellen. Der Raum, in dem er auf und abgehen mußte, hatte keine Fenster, keine Uhr oder Kalender. Dennoch gab es so etwas wie zeitliche Intervalle — obwohl Martino nicht hätte sagen können, ob sie regelmäßig waren oder nicht — nämlich das Ablösen der beiden Männer, die marionettenhaft hinter ihren Tischen saßen, auf denen weder Fragebogen, Bleistifte noch sonst etwas lag. Der Raum war rechteckig angelegt und von so gleichförmiger Ausstattung, hinter jedem der beiden Tische, die sich gegenüberstanden, befand sich eine Tür, daß man nach einiger Zeit nicht mehr sagen konnte, wo vorne und wo hinten war. Martino wanderte zwischen den beiden Tischen von dem einen Ende des Raumes zum anderen, dann wieder zurück und wieder hin, ohne Ruhepause, ohne Unterbrechung. Er hatte die beiden Türen schon so oft auf seiner rechten und linken Seite gesehen, daß er nicht mehr wußte, durch welche er in den Raum getreten war. Jedesmal, wenn er an den Tischen vorbeikam, stellte der Mann, der auf der rechten Seite saß, eine Frage. Irgend etwas. »Wie ist ihr zweiter Name?« Oder »Wieviel Zentimeter hat ein Meter.« Oder sonst irgendeine bedeutungslose Frage. Wie Martino darauf antwortete, schien ihnen völlig gleichgültig. Sie machten keine Notizen und sahen ihn nie an, wenn sie ihre Fragen stellten. Martino erinnerte sich, daß er am Anfang viele Fragen nicht beantwortet hatte, nach einiger Zeit jedoch war er so gereizt, daß er bewußt sinnlose Antworten gab wie »Newton« oder »Sechzig«. Jetzt war er so erschöpft, daß er es für einfacher und besser hielt nur noch die Wahrheit zu sagen.