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Martino wußte genau, was in ihm vorging: sein Gehirn begann eine eigene Wahrheitsdroge gegen die ständig zunehmende Müdigkeit zu entwickeln. Die Gleichung, die hier vorlag, war: richtige Antworten = Erleichterung.

Es war besonders erschütternd für Martino, daß die beiden Untersuchungsbeamten ihm kaum Beachtung schenkten. Er glaubte, durch eine völlig sinnlose Welt zu wandern. Die beiden Männer hinter ihren Tischen waren nicht da, um ihn zu richten, sondern lediglich, um mit ihm zu spielen, ihn weich zu machen. Er war der Ball, den sie sich zuwarfen. Daß nach einiger Zeit Azarin die wirklichen Fragen stellen würde, daran zweifelte Martino nicht, aber daß man ihn immer noch so weiterlaufen ließ, obwohl er schon seit einer geraumen Zeit die Wahrheit sagte, das zermürbte ihn. Schließlich erfüllte er seinen Teil der Gleichung. Warum gaben sie ihm jetzt keine Erleichterung? Aber die Männer saßen da und übersahen ihn; sie schienen nicht davon beeindruckt, daß er tat, was sie wollten. Er überlegte und kam zu dem Schluß, daß sein Gehirn die Entscheidungen, die es traf, offensichtlich nicht nach außen wiedergeben konnte. Wenn nur ein Mann dagewesen wäre, hätte man annehmen können, daß dieser taub und blind war, aber es waren immer zwei in dem Raum, und insgesamt mußten es mindestens zehn sein, die sich abwechselten. Martino schloß, daß er die Fähigkeit verloren haben mußte, sich in der äußeren Welt Gehör zu verschaffen, — er war es, Lucas Martino, der ein Nichts war.

In diesem Augenblick wußte Martino, was mit ihm geschah.

* * *

Azarin saß geduldig hinter seinem Schreibtisch. Er wartete auf Bescheid aus dem Verhörsaal. Vor drei Tagen hatte man Martino aus dem Krankenhaus hierhergebracht, und Azarin wußte, — denn er kannte sein Handwerk, — daß der Bescheid im Laufe des Tages kommen mußte.

Es war doch einfach, dachte Azarin. Man nahm die wichtigsten Dinge von einem Mann fort, und er fiel um. Allerdings mußte man schon Dinge wegnehmen, die lebenswichtiger waren als zum Beispiel seine Haut. Es gab auch solche, die ihre Objekte folterten, aber das war eine überalterte und unsaubere Methode. Daß dieser Martino intelligent war, war kein Hindernis. Im Gegenteil, die intelligentesten Menschen tragen den geringsten Ballast mit sich, und das bedeutete, daß man nur wenig wegzunehmen brauchte, um sie willfährig zu machen. Und wenn man einen solchen Menschen einmal auf diese Weise seelisch entkleidet hatte, genügte der leiseste Druck auf die eine oder andere Stelle, und er plauderte aus, was er wußte.

Natürlich war so ein Mann, nachdem man ihn ausgelaugt hatte, leer. Jeder konnte ihn von nun ab für sich verwenden, er war nachgiebig und demütig. Er war ein lebendiges Nichts.

Normalerweise gab ein Erfolg dieser Art Azarin nur geringe Befriedigung. Aber in diesem Fall?

Azarin knurrte vor sich hin und dachte an seine immerwährende Unüberwindbarkeit.

15.

Eddie Bates war ein dürrer Mann mit überkurzen Beinen. Sein Gesicht war entstellt und geradezu häßlich, und es fiel ihm schwer, sich an etwas Schönes aus der Jugend zu erinnern. Er hatte zwar versucht, durch tägliches Gewichtheben seinem Körper die Gestalt eines Übermenschen zu geben, aber er erreichte nie den freien, selbstbewußten Stand seiner Mitmenschen. Als er neunzehn war, verbrachte er einige Monate in einer Erziehungsanstalt. Man hatte ihn verurteilt, weil er einen hübschen, gutaussehenden Jungen aus der Nachbarschaft überfallen und verprügelt hatte.

Als er zwanzig wurde, fand er eine Stellung in einer Garage. Die meisten Kunden mochten ihn nicht leiden, da er ständig mürrisch und mißgelaunt seine Arbeit verrichtete. Und eigentlich war es nur ein einziger, der ihm jedesmal ein freundliches Wort sagte, wenn er mit seinem schweren Wagen in die Garage kam. Über diese Freundlichkeit hinaus fand Eddie, daß es sich lohnte, mit diesem Mann befreundet zu sein. Eddie überbrachte hier und da Nachrichten für ihn und wurde dafür nicht schlecht bezahlt. Daß er wahrscheinlich ein Verbrecher war, wenn er so hoch bezahlte und sich einen Boten hielt, störte Eddie nicht, denn er war schließlich sein einziger Freund auf der Welt. Als sein Auftraggeber ihm eines Tages ein Angebot machte, nahm Eddie an.

Jetzt hatte er es nicht mehr nötig, Botengänge zu machen. Er wurde Angestellter einer Luftverkehrsgesellschaft, und erhielt jeden Monat wie ein respektabler Bürger sein Gehalt. Daneben wurde ihm regelmäßig auf Umwegen ein weiterer Umschlag mit Geld zugespielt. Eddie wußte inzwischen, für wen sein Freund und Geldgeber arbeitete, aber er kümmerte sich nicht darum, denn man verlangte auf der anderen Seite nichts als Gegenleistung für das willkommene zweite Gehalt. Wenn irgend möglich, ging er Überlegungen dieser Art aus dem Wege.

Es vergingen einige Jahre. Eddie arbeitete immer noch für die Luftverkehrsgesellschaft, und er hatte entdeckt, daß er ein Talent für Maschinen hatte. Er liebte sie geradezu, und es gab selten eine Reparatur, die er nicht ausführen konnte. Die Menschen, die ihn einmal an einer Maschine hatten arbeiten sehen, übersahen seine häßliche Gestalt und sein fratzenhaftes Gesicht. Und zu allem Glück der Welt fand er auch noch eine Freundin.

Alice arbeitete in der kleinen Snackbar, in der Eddie jeden Mittag aß. Sie war fleißig und hatte die Überzeugung, daß nur ein Mann mit einem guten Beruf und nicht besonderem Aussehen für sie der richtige war. Sie mißtraute gutaussehenden Männern aus Prinzip. Es war für sie und Eddie eine abgemachte Sache, daß sie heiraten würden, sobald sie genügend Geld gespart hatten, um sich in der Nähe des Flughafens ein Häuschen zu kaufen.

Aber inzwischen hatte man Eddie wieder eingesetzt Sein Freund hatte ihm den Befehl selbst überbracht, und nun lag Eddie auf der einen großen Tragfläche eines Transatlantikflugzeuges und hielt dieses komische Ding in der Hand. Am oberen Rand sah er eine Zeiteinstellung, die sein Freund schon vor ein paar Stunden eingestellt hatte. Er sollte den ganzen Mechanismus — Eddie wußte sehr wohl, daß es sich um eine Zeitbombe handelte — in den inneren Motor schmuggeln. Er wußte nicht, daß dadurch das Flugzeug nur aufs Wasser gezwungen werden sollte, und so nahm er an, daß diese Bombe die ganze Tragfläche abzusprengen hatte.

Eine Zeitlang war er unentschlossen, ob er es tun sollte. Er hatte nie geglaubt, daß man so etwas von ihm verlangen würde, ja, er hatte noch nicht einmal geglaubt, daß man überhaupt etwas für das Geld fordern würde. Jetzt mußte er sieh entscheiden. Das zusätzliche Geld würde aufhören, wenn er es nicht tat; aber er konnte doch nicht so einfach … Er hatte selbst noch an diesem Nachmittag die Motore überholt; er war sehr stolz gewesen auf seine Arbeit und hatte liebevoll über die Motorhaube gestreichelt. Aber auf der anderen Seite brauchte er das Geld; umso eher würde er Alice heiraten können.