Ein halbes Jahrhundert früher war das ganze Gebiet mit Wein bepflanzt gewesen, und die Malaga Processing Corporation hatte Hunderte von Arbeitskräften aus Italien importiert. Siedlungen entstanden, Dörfer und Farmen. Die Hauptsprache war Italienisch.
Als eine längere Weinflaute einsetzte, verließen viele Farmer ihre Grundstücke. Einige von ihnen wurden von neuen Einwanderern übernommen. Die meisten waren Bauern in ihrem Heimatland gewesen, und nach einiger Zeit gelangte Milano wieder zu etwas Wohlstand.
Es war ein gutes Land, und Matteo Martino fand es selten notwendig, nach Bridgetown zu fahren. Er hatte alles in nächster Nähe: die Fabrik, die seine Tomaten in Säfte verwandelte und in Dosen verpackte, das Warenhaus und seine Felder.
Der junge Lucas war ein kräftiger Bursche mit braunen Augen und fast blondem Haar. Sein Vater nannte ihn oft Tedeschino, was soviel wie »Kleiner Deutscher« bedeutet. Schon früh wurde Lucas zu Arbeiten auf dem Feld oder im Garten herangezogen; er hatte bald einen festen Aufgabenkreis, den er gerne und eifrig erledigte. Als er etwas älter war, zeigte ihm sein Vater, der vor seiner Übersiedlung nach Amerika in den Fiat-Werken gearbeitet hatte, wie man ein Auto repariert und Maschinen in Ordnung hält. Lucas zeigte großes Interesse an diesem Unterricht.
Da er keine Geschwister hatte und während des Tages selten Gelegenheit fand, sich mit seinem Vater zu unterhalten, wuchs er zu einem frühreifen, etwas zurückhaltenden jungen Mann heran. Er fühlte sich trotzdem nicht einsam. Schließlich hatte er mehrmals genug Arbeit und dachte außerdem sehr früh bereits in Bildern, die zwar aus Einzelheiten bestanden, am Ende sich aber zu einem Ganzen zusammenfügten. Gleichaltrige Freunde hatte er nicht; und so lernte er bald den Entwicklungsweg eines jungen Menschen an sich beobachten — er registrierte alles sehr genau, ordnete es ein und ließ keine Kleinigkeit außer acht.
Auch in der Grundschule fand er nur wenig Freunde. Er kehrte mittags zum Essen heim und ließ abends nach Schluß der Schule selten eine Minute unausgenutzt. Er hatte viel Arbeit, und er tat sie gern. Er war ein guter Schüler und bekam ausgezeichnete Zensuren, außer in Englisch, das er zwar fließend sprach, aber für das er nicht allzu viel Interesse aufbrachte. Es genügte jedoch, um auf die höhere Schule von Bridgetown zu kommen.
Er fuhr jeden Tag vierundzwanzig Meilen mit dem Schulbus. Und es blieb nicht aus, daß der etwas zurückgezogene, aber ständig wissensdurstige junge Bursche sich in Gesellschaft seiner Kollegen langsam veränderte. Bald hatte er keine Schwierigkeiten mehr mit der englischen Grammatik. Ein Junge namens Morgan zeigte ihm, wie man rauchte. Ein anderer, Kovacs, erzählte ihm etwas über die Struktur und den Aufbau von Musik, ein dritter nahm ihn mit auf den Fußballplatz. Den stärksten Eindruck aber hinterließ Edmund Starke, ein kleiner, untersetzter Mann mit randloser Brille und schüchternem Blick. Starke war sein Physiklehrer.
Lucas Martino hatte die Welt entdeckt.
3.
Eine Woche war vergangen. Deptfords Stimme klang leer und müde über das Telefon. Rogers, in dessen Ohren es seit zwei Tagen leise, aber ohne Unterbrechung summte, mußte den Hörer fest ans Ohr drücken, um seinen Chef zu verstehen.
»Ich habe Karl Schwenn Ihre Berichte vorgelegt, Shawn, einschließlich meiner Zusammenfassung. Er gibt zu, daß man nicht mehr hätte tun können.«
»Fein.«
»Übrigens, er war auch einmal Chef eines Abschnittes und weiß daher Bescheid.«
»Kann ich mir denken.«
Deptfords Worte kamen nur zögernd, es schien, als suche er nach der passenden Formulierung, um einen Schlußstrich unter die Sache zu ziehen.
»Shawn, hören Sie zu. Morgen können Sie Ihre Leute nach Hause schicken. Sie selbst warten auf neue Anweisungen über Martino.«
»In Ordnung, Chef.«
»Bis dahin, Shawn.«
»Gute Nacht, Chef.« Rogers schob das Telefon beiseite und rieb sein rechtes Ohr.
Rogers und Finchley saßen auf der Pritsche und sahen den gesichtslosen Mann an, der auf dem Stuhl neben dem Tisch saß, an dem er seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Er hatte die meiste Zeit in dem kleinen Raum verbracht und ihn nur verlassen, wenn er in das Laboratorium ging, das man im Nebenraum: aufgebaut hatte. Man hatte ihm neue Kleider gegeben, und er war mehrfach unter der Dusche gewesen, ohne zu rosten.
»Herr Martino«, begann Finchley höflich, »Ich weiß, daß wir Sie schon alles mögliche gefragt haben, aber ist Ihnen seit unserer letzten Unterhaltung noch etwas eingefallen?«
Rogers dachte, dies ist unsere letzte Chance.
Er hatte noch niemand etwas davon gesagt, daß ihre Aufgabe zu Ende ging. Finchley war mit ihm in den Keller gekommen, da es immer besser war, wenn zwei Mann ein Kreuzverhör durchführten. Auf diese Art und Weise konnte man abwechselnd Fragen stellen, wenn der Befragte anfing, schwach zu werden. Man konnte ihn wie einen Tennisball hin und her jagen und ihn nicht mehr zu klaren Überlegungen kommen lassen. Insgeheim mußte Rogers jedoch zugeben, daß er Angst hatte, allein vor diesem eigenartigen Wesen zu sitzen.
Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich in dem polierten Metall. Erst einen Moment später wurde Rogers klar, daß Martino auf Finchleys Frage den Kopf geschüttelt hatte.
»Nein, ich erinnere mich an nichts. Das einzige, was ich noch weiß, ist die Explosion direkt vor meinem Gesicht.« Er schien lachen zu wollen, aber es klang wie ein heiseres Bellen. »Ich glaube, es war in der Tat mein Gesicht. Als ich in ihrem Krankenhaus zu mir kam, befühlte ich zuerst meinen Kopf.« Dabei griff er mit der gesunden Hand nach seinem stählernen Kinn.
»Schön«, nickte Finchley. »Und was geschah dann?«
»In jener Nacht injizierten sie ein Betäubungsmittel in mein Rückgrat. Als ich wieder aufwachte, hatte ich diesen Arm hier.«
Das künstliche Glied schoß hoch, und seine Knöchel klapperten gegen den Metallkopf. Martino seufzte ein wenig, sei es, daß er das Geräusch nicht vertragen konnte, sei es, daß er sich an den ersten, verwirrenden Eindruck erinnerte.
Rogers betrachtete gebannt das Gesicht des Mannes. Die Pupillen seiner Augen sammelten das Licht des ganzen Raumes und ließen es in ihrer Einkerbung hell aufleuchten. Das Mundgitter sah aus wie die Zahnreihe einer häßlichen Grimasse.
Es war gut möglich, daß der Mann dahinter — wenn er nicht Martino war — sich eins ins Fäustchen lachte.
»Lucas«, begann Rogers so vertraulich als möglich.
Martinos Kopf stellte sich augenblicklich auf Rogers ein. »Ja, Herr Rogers?«
Wenn sie ihn trainiert hatten, so hatten sie es gründlich getan.
»Hat man Sie sehr ausgiebig verhört?«
Der Mann nickte. »Natürlich weiß ich nicht, was Sie ausgiebig in einem solchen Fall nennen. — Nach zwei Monaten konnte ich aufstehen; sprechen konnten sie mit mir schon eine geraume Zeit vorher. Ich möchte sagen, sie haben sich ungefähr zehn Wochen lang mit mir beschäftigt, wobei sie versucht haben, das aus mir herauszubekommen, was sie noch nicht wußten.«
»Zum Beispiel über das K-88-Projekt, nicht wahr?«
»Ich habe das K-88-Projekt nicht erwähnt. Ich glaube, sie wissen noch nichts darüber. Sie stellten nur ganz allgemeine Fragen: zum Beispiel, in welcher Richtung wir unserer Forschungen betrieben, und so weiter.«
»Herr Martino«, griff Finchley ein, und Martinos Schädel drehte sich unheimlich auf seinem Hals, ähnlich dem Geschützturm eines Panzerwagens. »Sie haben sich sehr viel Arbeit mit Ihnen gemacht, offen gesagt, wenn wir Sie zuerst erwischt hätten, nun ja, Sie würden auch noch leben, aber ich glaube, Sie wären nicht gerade begeistert darüber gewesen.«