Der Metallarm fiel auf den Tisch. Niemand sagte ein Wort. Rogers erwartete eine scharfe Antwort.
»Ja, das leuchtet mir ein.«
Rogers war über die ruhige, teilnahmslose Sprache des Mannes überrascht. »Ich glaube auch, daß sie es nicht getan hätten, wenn sie nicht etwas Positives als Gegenleistung erwartet hätten.«
Finchley schaute mit hilflosem Blick auf Rogers. »Ich möchte sagen, Herr Martino, Sie haben es so präzise ausgedrückt, wie es nur eben möglich ist.«
»Herr Finchley, sie haben nichts erfahren. Vielleicht haben sie sich selbst übertrumpft Es ist nämlich ziemlich schwer, einen Mann fertigzumachen, dessen Nervosität man nicht sehen kann.«
Rogers stand mit einem Ruck auf., »Gut, Herr Martino. Wir danken Ihnen. Es tut mir leid, daß wir zu keinem Ergebnis gekommen sind.«
»Mir auch.« Martino nickte.
Rogers beobachtete ihn aufmerksam. »Da ist noch etwas. Sie wissen, daß wir Sie so hart bearbeitet haben, da die Regierung um das K-88-Projekt besorgt ist.«
»Ja?«
Rogers biß sich auf die Lippen. »Ich fürchte, das ist jetzt vorbei. Man will nicht mehr länger warten.«
Martino sah schnell von Rogers zu Finchley. Rogers glaubte, einen besonderen Glanz in seinen Augen zu sehen. Er hörte ein Krachen und sah, wie die metallene Hand die Schreibtischkante umkrallte.
»Soll das heißen, daß ich nie wieder daran arbeiten soll?« fragte Martino.
Er schob sich in die Mitte des Raumes, und man hatte den Eindruck, als seien auch die gesunden Muskeln zu Stahlseilen erstarrt.
Rogers schüttelte den Kopf. »Offiziell weiß ich noch nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man einen Mann in Ihrer Situation und von Ihrem Können in die Nähe eines solchen Projektes läßt. Auf der anderen Seite steht die Entscheidung noch aus. Ich kann Ihnen also nicht eher etwas Bestimmtes sagen, bis sie mich erreicht hat.«
Martino machte drei Schritte, drehte sich um und kam zurück.
Rogers fuhr fort; seine Stimme klang entschuldigend; »Sie können es sich nicht leisten, einen Fehler zu machen. Sie werden sicher versuchen, das Problem durch etwas anderes zu lösen, etwas, das das K-88-Projekt ersetzt.«
Martino klatschte auf seine Schenkel.
»Sehr wahrscheinlich durch das Unding von Besser.« Er setzte sich, den Kopf von den anderen abgewandt. Seine Hand durchsuchte eine Hemdtasche und brachte einen Zigarettenstummel zum Vorschein. Er steckte ihn in den Mund, und man konnte ein Motorengeräusch hören. Die innere Gummifolie schloß sich um das Zigarettenende. Etwas ungelenkig zündete er es an.
»Idiotie!« Martino stieß das Wort hervor wie ein Wilder. »K-88 ist die Antwort! Bessers Idee, jene wissenschaftliche Mißgeburt, wird sie auf den Hund bringen.« Er saugte erregt an der Zigarette.
Plötzlich drehte er sich zu Rogers um. »Warum stieren Sie mich so an? Ich hab’ einen Hals und auch ’ne Zunge. Warum sollte ich also nicht rauchen?«
»Wir wissen das, Herr Martino«, sagte Finchley milde.
»Sie glauben es zu wissen!« Er hatte sich wieder zur Wand gewendet. »Wollten Sie nicht gehen?«
Rogers nickte. »Ja, wir wollten gehen, Herr Martino. Entschuldigen Sie.«
»Schon gut.« Er wartete bis die beiden Männer in der Tür standen, dann sagte er: »Können Sie mir ein paar Tempo-Taschentücher für meine Augengläser schicken?«
»Ich werde sie sofort herunterschicken.« Rogers schloß vorsichtig die Tür. »Ich nehme an, daß seine Augen beim Rauchen schmutzig werden«, bemerkte er zu Finchley.
Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ziemliches Schauspiel, das er uns da vorgeführt hat. Wenn er Martino ist, kann ich es ihm nicht verübeln.«
»Und wenn er es nicht ist, kann ich es ihm ebensowenig krummnehmen.«
»Wissen Sie«, sagte Rogers, »wenn wir uns eben Gewißheit verschafft hätten, hätten sie das K-88-Projekt weiterlaufen lassen. Es wird nämlich erst um Mitternacht entschieden, was geschehen soll. Sie sehen, es hängt von mir ab. Mehr oder weniger.«
»Das ist interessant.«
»Ich habe ihm nur gesagt, daß alles aus ist, weil ich hoffte, etwas von ihm zu erfahren.«
Rogers hatte das Gefühl einer ganz besonderen Niederlage.
»Nun«, meinte Finchley, »man kann eigentlich nicht sagen, daß er überhaupt nicht reagiert hat.«
»Natürlich nicht. Reagiert hat er.« Rogers fand es schwer, das zu sagen, was er empfand. »Aber er hat nicht so reagiert, daß er uns helfen könnte. Er hat sich lediglich wie ein ganz normaler Mensch betragen.«
4.
Das Physiklaboratorium des Bridgetown-Gymnasium war ein länglicher, aus zwei Schulklassen entstandener Raum, auf dessen einer Seite eine Reihe Fenster in den Hof blickten. Auf der den Fenstern gegenüberliegenden Wand war eine lange Tafel angebracht. Mehrere Tischreihen standen vor dem Pult Edmund Starkes. Im großen und ganzen reichte der Raum aus, obwohl Starke das niemals zugab.
Für Lucas Martino bedeutete dieser Schulraum sehr viel. Sein Lehrer gab in diesem, seinem Laboratorium für ihn Physikunterricht. Dieser Ort befand sich genau an der richtigen Stelle, wie überhaupt alles in seinem Universum an der richtigen Stelle war oder sich ihr näherte. So kam es, daß er, wenn er morgens den Raum betrat sich erst einmal prüfend umsah, ehe er sich setzte. Und das tat er mit einem eigenartigen Ausdruck von Besitzergreifung. Die Folge war, daß Starke ihn sich als eifrigen Schüler merkte.
Lucas Martino hatte diese Entwicklung in seinem Lehrer beobachtet. Er urteilte nicht über sie, er merkte sie sich nur, er legte sie gewissermaßen in seinem Bewußtsein auf Lager, ähnlich einem Maschinenteil, den er gefunden hatte und von dem er wußte, daß er ihn eines Tages in ein Ganzes einpassen würde. Da er keine Urteile fällte, war nichts nebensächlich für ihn. Alles, daß ihm einmal begegnet war, hatte er irgendwo in seinem Kopf verstaut. Er hatte kein photographisches Gedächtnis — statische Bilder der Vergangenheit interessierten ihn nicht. Alles war in Bewegung und wartete darauf, zusammengesetzt zu werden.
Er war ein ruhiger Schüler, der nur dann antwortete, wenn er gefragt wurde. Er hatte die Gewohnheit, die Dinge selbst zusammenzufügen. Fragen stellte er nur selten an Starke.
Das Resultat war, daß seine Zensuren bald ausgezeichnet bald ungenügend waren. Wie in allen höheren Schulen der Weit sollte auch Starke in seiner Klasse nur die Grundprinzipien der Physik lehren. Und das zum größten Teil nur theoretisch. Die Schüler hatten vorläufig nur Grundformeln auswendig zu lernen, sie sollten noch nicht selbständig irgend etwas aufbauen. Lucas Martino verkannte diese Tatsache. Ja, wenn er um sie gewußt hätte, wäre ihm sogar unwohl gewesen. Stattdessen glaubte er, daß Starke ständig Andeutungen machte, die er auszufüllen und zu einem Ganzen zusammenzufügen hatte.
Manchmal geschah es, daß er die Richtung einer Lektion kannte, bevor der erste Satz ausgesprochen war. Oder er wußte das Ergebnis eines Versuches, noch ehe Starke das Versuchsgerät fertig aufgebaut hatte. Alle seine aufbewahrten Ideen, Andeutungen und unzusammenhängenden Daten fielen dann an ihren Platz, und er verspürte so etwas wie Genialität.
Aber es geschah auch, daß es nur so aussah, als paßten die Dinge, wobei sie in Wirklichkeit auseinanderstrebten. Lucas Martino folgte trotzdem diesem falschen Hasen und machte Fehler, die niemand anders hätte machen können.
Wenn er dann das Ende der Sackgasse erkannte, arbeitete er sich Stück für Stück an der Kette der irreführenden Fakten zurück. Nachdem er aber wieder auf dem richtigen Weg war, fiel es ihm schwer, die zwar falsche, aber immerhin beschrittene Straße völlig aus seinem Bewußtsein zu streichen. Schließlich waren es nicht nur wilde, sondern bis zu einem gewissen Grade auch zusammenhängende Theorien. Martino schuf also ein zweites Lagerhaus in seinem Gedächtnis; hier stellte er alle ketzerischen Phantome dieser Art ab.