Rogers Antwort kam sanft »Wissen Sie etwas Besseres.«
Es war weder Finchleys Schuld, daß alles so gekommen war, noch Rogers, noch Deptfords. Man hatte sie trotzdem degradiert. Sie waren alle einschließlich Martino in ein unentwirrbares Knäuel von Umständen geraten, aus dem sie nicht herauskonnten. Sie mußten darin bleiben und ihm folgen, wohin es rollte.
»Nein«, gab Finchley zu, »ich weiß auch nichts.«
Leichter Bodennebel hüllte den Flugplatz ein. Er lag wie ein fadenscheiniges Leichentuch auf Gebäuden, Flugzeugen und Autos. Rogers stand vor der Halle. Er war allein. Finchley saß mit Martino — selbst wenn man nicht wußte, wer er war, so konnte man nicht umhin, ihn mit diesem Namen zu bezeichnen — in dem wenige Meter entfernt parkenden Wagen. Rogers starrte auf den schmutzigen Metallbauch des Flugzeuges, das sie über den großen Teich bringen sollte. Er dachte daran, wie elegant ein mit dem Himmel verschmolzenes Flugzeug aussieht, und wie auf dem Boden seine Reinheit unter zahllosen Nietköpfen mit Ölrand, Schleifspuren und Staubflecken untergeht.
Er hatte kaum eine Zigarette angezündet, als über die Lautsprecher bekanntgegeben wurde, daß die Passagiere sich zum Flugzeug begeben möchten. Er wartete jedoch noch einen Augenblick, denn er wußte, daß es immer etwas dauerte, bis alle Passagiere beisammen waren. Durch die Glaswand des Warteraumes sah er die Passagiere sich mit ihrem Handgepäck zu einem der Ausgänge bewegen.
Martino würde irgendwann einmal an die Öffentlichkeit treten müssen. Rogers hielt die erste Gelegenheit für die beste. Daher hatte er Plätze auf diesem normalen Linienflug gebucht Auf diese Art und Weise würden fünfundsechzig Menschen auf einmal Martino gegenüberstehen.
Rogers versuchte sich vorzustellen, was wohl geschehen würde. Er war von den vielen Möglichkeiten nicht sonderlich beeindruckt. Ihn fror, und er fühlte sich niedergeschlagen.
Rogers wartete, bis Finchley den Wagen öffnete. Etwa zehn Meter entfernt standen die fünfundsechzig Passagiere dichtgedrängt um die Bodenstewardeß, die noch einmal ihre Flugscheine kontrollierte.
Martino stieg aus. Rogers hoffte fast, daß er warten würde, bis alle anderen Passagiere den Raum verlassen hatten. Stattdessen schlug er die Wagentür so laut zu, daß sich alle umdrehten und auf die Gestalt sahen, die soeben dem Wagen entstiegen war. Eine Sekunde lang blieb Martino stehen; er hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, den Hut tief in sein metallenes Gesicht gezogen und große Handschuhe angezogen. Dann stellte er die Luftreisetasche auf den Boden, zog seine Handschuhe aus, schob den Hut vom Kopf und sah unbeweglich auf die anderen Passagiere.
Er sprach kein Wort. Mit schnellen Schritten ging er auf den Ausgang zu, Tasche, Handschuhe und Hut in der gesunden Hand. Mit der anderen holte er den Flugschein aus der Manteltasche. Plötzlich hielt er an, bückte sich — und hob eine Damenhandtasche auf.
»Ich glaube, Sie haben dies hier fallenlassen?« sagte er.
Er drückte die Tasche einer verwirrt dreinblickenden Dame in die Hand, Dann drehte er sich zu Rogers um und sagte betont lässig: »Nun, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns an Bord begeben, nicht wahr?«
6.
Der Sommer 1966 war in New York ausgesprochen kühl. Es regnete oft, und die Menschen schienen bedrückt und unbehaglich. In diesem Sommer kam der junge Lucas Martino in die Stadt. Die Menschen, die in früheren Jahren an warmen Sommerabenden durch den weiten Central Park zu gehen pflegten, blieben in diesem Jahr zu Hause. Es kam oft genug vor, daß kein begeisterter Zuhörer vor der Mall Konzerthalle stand; etwas Undenkbares in den vorangegangenen Jahren.
Hier und da gab es ein paar sonnige Tage, und alle Menschen der großen Stadt glaubten — obwohl die Meteorologen sie eines Besseren belehrten — daß endlich der Sommer begonnen habe. Doch sie hatten sich zu früh gefreut; bald zogen wieder graue Wolken über die hohen Häuser, eine neue Regenperiode verkündend. Das Resultat dieses mißratenen Sommers war, daß die Menschen unglücklich, nervös und unzufrieden waren. Das war jedenfalls Lucas Martinos Eindruck, als er zum ersten Male in seinem Leben in die große Stadt kam.
Sein Onkel, Lucas Maggiore, war der ältere Bruder seiner ersten Mutter; er war 1936 bereits in die Staaten gekommen. Jetzt, da er alt und launisch zu werden begann, war er sehr erfreut, daß sein Neffe zu ihm kam und für ihn arbeiten wollte. Der Onkel besaß im italienischen Viertel von Greenwich Village eine kleine Kaffeebar. Sie hieß »Espresso Maggiore« und war bis vor kurzem eine ganz einfache Trattoria gewesen, in der sich die Italiener der Umgebung trafen, ihren Kaffee tranken und über ihre Heimat redeten. Keiner von ihnen ging jemals in das griechische Kaffeeneikon. Das verbat ihnen der patriotische Anstand.
Aber mit der Zeit wurde das Kampffeld der Touristen auch in die enge Straße vorgetrieben, in der Onkel Maggiore sein Kaffeehaus begonnen hatte. Onkel Maggiore war Geschäftsmann. Er ließ sein Etablissement umgestalten, und bald konnte man moderne Wandgemälde bewundern, antike Tische, eine automatische Kasse, und das alles bei Musik von Muzak. Maggiore war überzeugter Junggeselle. Er hatte es immer verstanden, hinreichend Geld zu verdienen; und so war er jetzt in der Lage, seinen Neffen besser zu bezahlen, als er es verdiente. Er hätte sich etwas leisten könne, aber er war von Natur aus vorsichtig, und so saß er lieber auf seinem Geld und grollte. Seit Jahren machte sich in ihm eine leichte Abscheu gegen sein Geschäft, breit, und schon früh nahm er sich einen Geschäftsführer, der ihn vertreten konnte und der es ihm erlaubte, möglichst oft dem Espresso Maggiore fernzubleiben. Dafür sah man ihn immer häufiger bei den älteren Herren in schwarzen Überziehern auf dem Washington Square, wo sie sich alltäglich trafen, um an den runden Steintischen des Parkamtes Schach zu spielen.
Als der junge Lucas auf dem Pennsylvania Bahnhof ankam, war sein Onkel schon da, um ihn zu begrüßen. Der große alte Mann lief auf seinen Neffen zu, umarmte ihn und klopfte ihm kräftig auf die Schultern.
»Ah! Lucas! Bello nipotino! E la Mama, il Papa — come lei portano?«
»Es geht ihnen gut, Onkel Lucas. Sie lassen dich grüßen.«
»Ist prima, daß du da bist. Du weißt — ich mag dich, du magst mich — molto bene.« Er hatte Lucas Koffer genommen und war auf den Eingang der Untergrundbahn zugegangen. »Frau Dormiglione, meine Wirtin, hat ein Zimmer für dich fertig gemacht. Billig. Prima Zimmer. Ausgezeichnet. Die alte Frau ist ein wenig gebrechlich, sie kann nicht mehr putzen; das mußt du selbst tun. Dafür läßt sie dich auch in Ruhe. Lucas, du bist jung, und junge Leute sollen unter sich sein. Du bist achtzehn, nicht wahr, und solltest etwas vom Leben mitbekommen.« Er deutete mit dem Kopf auf ein entgegenkommendes, junges Mädchen.
Lucas wußte nicht recht, was er sagen sollte. Er folgte seinem Onkel, stieg mit ihm in den unterirdischen Expreßzug ein und wartete darauf, daß der alte Herr die Unterhaltung wieder aufnahm.
In der Vierten Straße stiegen sie aus. Das Haus, in dem Onkel Maggiore wohnte, war unweit West Broadway gelegen. Der Onkel wohnte auf dem obersten Stockwerk, während Lucas. Zimmer auf Straßenhöhe lag. Es hatte einen eigenen kleinen Vorgarten und einen separaten Eingang. Onkel Maggiore stellte Lucas der Hauswirtin vor, gab ihm etwas Zeit, sich frisch zu machen, und nahm ihn gleich mit in das Geschäft.
Auf halbem Weg sagte der Onkel plötzlich: »Lucas und ich auch Lucas ist zuviel! Hat Matteo dich nie anders genannt?«
Lucas überlegte. »Doch. Vater hat mich manchmal Tedeschino gerufen.«
»Prima! Im Geschäft heißt du Tedeschino. In Ordnung?«
»In Ordnung!«
Unter diesem Namen stellte Onkel Maggiore seinen Neffen im Geschäft vor. Er gab ihm den ersten Tag frei, steckte ihm einen Wochenlohn in die Tasche und bat ihn, am nächsten Tag um zwölf zur Arbeit zu kommen. Nach dieser Einleitung sahen sich Onkel und Neffe nur gelegentlich. Es kam vor, daß der Onkel Lucas zum Essen einlud und mit ihm Schallplatten in Frau Dormigliones Wohnzimmer anhörte, im übrigen aber ließ er den Jungen allein, so daß dieser sich sein Leben selbst einrichten konnte. Onkel Maggiore stand im Hintergrund, immer bereit, einzuspringen, wenn Lucas Gefahr lief, in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten. Er glaubte, für den Jungen das Beste getan zu haben, und er sollte rechtbehalten.